Online-Spielplan brachte Wiener Staatsoper 190.000 neue Kunden

Die Wiener Staatsoper hat in den vergangenen Jahren ein umfangreiches digitales Angebot aufgebaut, mit dem sie Opernfans in der ganzen Welt erreichte.

Verantwortlich dafür war der Kultur-und Musikmanager Christopher Widauer. Was er als Head of Digital Development initiierte und umsetzte, kommt in der Coronakrise dem Haus am Ring nun besonders zugute.

APA: Herr Widauer, die Wiener Staatsoper spielt derzeit täglich – im Internet. Dabei versuchen Sie weitgehend, den eigentlich geplanten Spielplan abzubilden. Wie weit gelingt Ihnen das?

Christopher Widauer: Bis Ende Mai liegen wir bei 70 Prozent oder sogar etwas mehr. Im Mai wird’s ein bisschen komplizierter, mit viel neuem Ballett und der neuen Muti/Muti-„Cosi“, die sechsmal gespielt hätte werden sollen.

Dafür kann man sich bei uns viele Stücke aus dem Repertoire in unterschiedlichen Besetzungen ansehen, manches sogar, wie den „Parsifal“, in zwei verschiedenen Inszenierungen. Für wahre Opern-Fans, und das ist ja unser Hauptpublikum, ist das ein besonderes Vergnügen.

Wann haben Sie in der Staatsoper angefangen, und was war Ihre ursprüngliche Job Description?

Ich bin im Frühjahr 2013 gekommen. Die Wiener Staatsoper hatte damals schon eine kleine Technikeinheit für die Übertragungen „Oper live am Platz“ (OlaP), die unter Ioan Holender eingeführt wurden und die es ja noch immer gibt.

Von der Videotechnik und der künstlerischen Arbeit war das erstaunlich gut, aber natürlich weit davon entfernt, dass man das international bezahlt als Livestream hätte anbieten können. Genau das war aber die Idee von Dominique Meyer und damit mein Auftrag.

Wir haben drei Dinge definiert: Wir müssen von der Produktion unabhängig sein; wir wollen nicht ins Kino, sondern direkt übers Internet nach Hause zu den Leuten; und wir wollen im Prinzip das gesamte Repertoire abbilden.

Denn wir sind jeden Abend voll und möchten unseren eingeschränkten Zuschauerraum sprengen und für jeden Opernfreund auf der ganzen Welt zugänglich sein.

Dafür hat es vermutlich erst einmal viele Investitionen benötigt?

Insgesamt waren das ca. 1,5 Mio. Euro, die über Sponsoren aufgebracht wurden. Wir haben im Sommer 2013 die vier schon recht betagten Kameras für die OlaP ersetzt und haben jetzt neun Kameras.

Beim Einbau war klar: Diese Kameras müssen unsichtbar und unhörbar sein – sowohl fürs Publikum als auch für die Künstler auf der Bühne. Eine weitere wichtige Entscheidung war: Wir machen das nicht umsonst.

Kunst hat auch im Internet einen Wert. Und wir haben den Rechteerwerb auf den Kopf gestellt. Bis dahin war die Regel: Es kommt ein Produzent ins Haus, erwirbt die Rechte und verkauft die dann weiter. Wir haben es komplett anders gemacht: Es gibt keine Rechteabgeltung im Vorhinein, sondern einen gerechten Anteil der Einnahmen.

Alle Mitwirkenden haben gesagt: Lasst uns das probieren! 2014/15 war dann die erste volle Saison. Wir haben seither fast 300 Produktionen gemacht, die wir nun im Archiv haben.

Diese Streams sind immer abrufbar?

Nein, es war von Anfang an klar, dass es zwei Fälle gibt. Die Streams sind live, und die bleiben nur für eine bestimmte Zeit zugänglich, das war anfangs 24 und schon bald 72 Stunden, damit man in Tokio und New York auch zusehen kann.

Der zweite Fall ist: Wenn jemand, wie etwa ORF, 3sat oder ein Label das beauftragt, produzieren wir aufwendiger. Da müssen mindestens drei Aufführungen aufgezeichnet werden, die man dann im Studio nachbearbeitet. Diese mittlerweile bald 20 Produktionen findet man auch in unserer Videothek.

Wie schauen die Zahlen dabei aus?

Über die Jahre haben wir einen Stock aufgebaut mit über 100.000 registrierten Kunden, davon 10.000, die regelmäßig etwas kaufen. Dazu kommen Partnerplattformen in China und in Japan, die jeweils wieder ihre Abonnenten haben. Dennoch waren wir aus dem reinen Verkauf der Streams über die Plattformen nie kostendeckend.

Aber wir haben ja in den letzten zwei Jahren auch 15 Produktionen für den ORF gemacht und damit Einnahmen erzielt. Seit wir jetzt am 15. März mit den täglichen Streams begonnen haben, verzeichnen wir 190.000 neue Registrierungen. Jeden Abend liefern wir allein auf unseren Plattformen 18.000 Streams aus und mindestens noch mal so viele in China und Japan, wobei sich im Schnitt das immer zwei Leute ansehen.

Wir behaupten ja nicht, der Livestream ist dasselbe wie ins Haus zu kommen. Das wäre ja absurd. Aber es ist schon so: Im Livestream hast du immer den besten Platz.

Seit dem Shutdown gibt es fast im Stundentakt neue Videoangebote der Kulturveranstalter. War das ein notwendiger Anschub für eine Entwicklung, die über kurz oder lang ohnedies gekommen wäre?

Ich glaube nicht, dass diese Entwicklung so wie sie jetzt stattfindet von selber gekommen wäre und wohl auch nicht, dass sie nachhaltig ist.

Das ist jetzt alles gut und wichtig, dass es so Handyvideos von Schauspielern gibt, die Sonette vorlesen und so, aber wir hoffen doch, dass wir nicht die nächsten zehn Jahre so leben müssen.

Vieles von dem, was jetzt aufgepoppt ist, wird wieder verschwinden. Aber es hat einen enormen Bewusstseinsschub gegeben bei vielen kleineren und größeren Kultureinrichtungen, die sich schon genau anschauen werden, wie man die Produktionen besser dokumentieren und wie man Menschen reinholen kann, die wir bisher nicht erreicht haben. Da wird sich tatsächlich viel entwickeln.

Beim Notenmaterial hat die Digitalisierungswelle bereits begonnen. Welche Rolle spielen Sie dabei?

Da gibt‚s eine kleine Anekdote aus 2017: Wir haben „Roméo et Juliette“ von Gounod mit Juan Diego Florez aufgezeichnet und ihn eingeladen, mit uns zu diskutieren, welche Arie von welcher Vorstellung er drinnen haben möchte. Mein ganzes Team ist mit einem Berg Noten auf der einen Seite des Tisches gesessen – und auf der anderen Seite kommt Juan Diego mit einem iPad und hatte dort präzise und übersichtlich einfach eingezeichnet in grün, rot und blau, welche Takte er von welcher Vorstellung gerne hätte.

Und da denke ich mir: He, da ist was verkehrt! Auf meiner Visitenkarte steht „Head of Digital Development“ und dabei sitze ich vor einem irrsinnig unübersichtlichen Haufen Papier, während du mir zeigst, wie das eigentlich geht. Das hat mich nicht losgelassen. Ich bin bei uns im Haus herumgegangen und habe gesehen, dass an sehr vielen Stellen Kollegen Noten digital einsetzen.

Näher besehen bin ich draufgekommen, dass diese Softwarelösungen von dem, was wir brauchen, weit entfernt sind: Wenn jemand eine Eintragung macht, muss die bei allen anderen auch auftauchen, wenn‘s gewünscht ist. Wir brauchen also volle Kollaborativität. Und ich habe eine Lösung gesucht, die das iPad nicht nur als digitalen Ersatz für einen Block Papier oder ein Notenheft nimmt, sondern auch Audio und Video und andere Software einbinden kann.

Dafür haben wir uns zusammengetan mit dem französischen Start-Up Newzik. Die sind im Herbst 2017 zu uns gekommen, und im Jänner 2018 haben wir bei der Neuproduktion „Ariodante“ zum ersten Mal die Klavierauszüge für Produktion und Inspizienten auf diesem neuen System digital verwendet.

Was sagen die Musikverleger dazu?

Widauer: Drei, vier Tage nach der ersten Probe habe ich einen Anruf bekommen und jemand vom Verband der deutschen Musikverleger war dran: „Was ist hier los, habt ihr noch alle Tassen im Schrank, die ganze Oper ist jetzt am Schwarzmarkt in Shanghai…“

Dazu muss man wissen: Im Musikbetrieb sind die Noten immer noch die Mutter aller Dinge. Bei uns in der Staatsoper werden jedes Jahr über 1 Mio. Seiten Noten auf Papier verwendet. Und auf praktisch jeder von diesen Seiten ist irgendeine Eintragung, ein Bogenstrich, ein Atemzeichen, eine dynamische Indikation, weil irgendwas geändert wurde.

Jede von diesen Seiten muss ständig mit allen anderen synchron gehalten werden. Und jede von diesen Seiten wird mit Lkw durch halb Europa gekarrt oder mit Flugzeugen aus Amerika herangeschafft. Es ist irre, was da abläuft, davon macht man sich von außen überhaupt kein Bild, das war auch für mich neu.

Dass wir als alte Tante Staatsoper, 150 Jahre alt, hineinstechen in ein Businessmodell der Musikverlage, das zurückgeht auf das späte 18. Jahrhundert und wo sich die vertragliche Situation und die gesamte Abwicklung seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr verändert hat, ist schon erstaunlich. Ich habe also mit allen Verlagen Kontakt aufgenommen und ihnen erklärt: Es geht uns überhaupt nicht darum, euch zu übergehen oder weniger zu bezahlen.

Uns geht es darum, Workflows und rechtliche Rahmenbedingungen zu finden, die unserer Zeit entsprechen, und die es möglich machen, unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zeitgemäße Mittel und Material in die Hand zu geben.

Die so wie wir extrem traditionsreiche Universal Edition hat als erste reagiert, und der Deutsche Musikverlegerverband, genau der mit dem Protestanruf, hat mich eingeladen, 2020 in Berlin auf seiner Jahreskonferenz zu sprechen und den Verlagen zu erklären, wie Digitalisierung geht. Nur kann diese Konferenz wegen Corona jetzt leider nicht stattfinden…

Wann ist dieser Paradigmenwechsel der Digitalisierung in der Musikwelt abgeschlossen?

Widauer: Sehr lange wird es beides nebeneinander geben, und vermutlich wird es nie zu einer totalen Digitalisierung kommen. Das muss es auch überhaupt nicht, denn es gibt viele Einsatzgebiete von Musik, in denen die Digitalisierung kaum Vorteile bringt.

Aber auf der anderen Seite zeigt gerade die Coronakrise mit brutaler Deutlichkeit, wie abhängig wir von Mechanismen und von Workflows sind, die einfach nicht so selbstverständlich sind, wie wir immer glauben. Die Staatsoper ist geschlossen, an unsere Notenbibliothek kommt kein Mensch ran, ebenso die Unis, die Orchesterbibliotheken.

Selbst die Leute, die wollen und müssen, können sich nun nicht vorbereiten. Mit digitalem Material könnten nun alle in Echtzeit zusammenarbeiten. So weit sind wir leider noch nicht. Aber es wäre schön gewesen, jetzt schon soweit zu sein – und diese Krise wird viel dazu beitragen.

Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA

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