Roman „Die allerletzte Kaiserin“: Hochadelige oder Hochstaplerin?

Die Tragödie von Mayerling, als sich am 30. Jänner 1889 Kronprinz Rudolf seine Geliebte Mary Vetsera und sich selbst erschoss, ist literarisch noch immer verwertbar. Das beweist die 1991 in Graz geborene Autorin Irene Diwiak in ihrem neuen Roman „Die allerletzte Kaiserin“ (C. Bertelsmann, 304 Seiten, 22,70 Euro). Es ist eine verschachtelte Geschichte, deren Hauptstrang nicht in der Monarchie, sondern in Nachkriegszeit und Gegenwart spielt und über Umwege von einem Landgasthaus in das Jagdschloss bei Wien führt.

Wer bei dem Titel „Die allerletzte Kaiserin“ an Elisabeth Petznek (1883-1963), das einzige Kind von Rudolf und seiner Ehefrau Stephanie von Belgien, denkt, liegt nicht ganz falsch. Der wegen ihrer Sympathie für die Sozialdemokratie „rote Erzherzogin“ genannten Enkelin Kaiser Franz Josephs hat der Autor Martin Prinz 2016 einen Roman gewidmet („Die letzte Prinzessin“) und die Museumskuratorin Michaela Lindinger 2021 eine Biografie („Elisabeth Petznek. Rote Erzherzogin, Spiritistin, Skandalprinzessin“). „Erszi“, die wegen unstandesgemäßer Ehe aus dem Kaiserhaus ausscheiden musste, spielt auch in Diwiaks Roman eine Nebenrolle – Hauptfigur ist allerdings ihre angebliche Halbschwester Johanna. Die taucht als alte Dame mit seltsam aus der Zeit gefallenen Manieren eines Tages in einem Gasthaus auf, wo die Wirtstochter Claudia ohnehin tagsüber wenig zu tun hat, ehe die ersten Gäste zum Feierabend-Bier auftauchen. Und das, was Johanna Fialla beim täglichen Verzehr einer Portion gebackenen Zander im Angesicht eines Kaiser-Porträts zu erzählen weiß, ist jedenfalls ungleich interessanter als die üblichen Wirtshaus-Gespräche.

Lesen Sie auch

Interessantes neues Sujet von Diwiak

Irene Diwiak ist seit einigen Jahren fester Bestandteil der heimischen Literaturszene. 2017 verband sie in ihrem in den 1920er und 1930er-Jahren spielenden Debütroman „Liebwies“ zwei Künstlerinnenbiografien zu einer reich ausgeschmückten Geschichte um Unterdrückung und Emanzipation und wurde damit für den Debütpreis nominiert. 2020 pendelte sie in ihrem Zweitling „Malvita“ zwischen Unterhaltungs- und Kriminalroman. 2023 erzählte sie in ihrem Buch „Sag Alex, er soll nicht auf mich warten“ die Geschichte der Widerstandsbewegung Weiße Rose neu, und zuletzt setzte sie sich in dem vor wenigen Wochen in Bregenz uraufgeführten Stück „Die Erwachsenen“ mit Rechtsextremismus auseinander. Diesem thematisch wie stilistisch weit gefächerten Oeuvre fügt sie ein interessantes neues Sujet hinzu, das sie allerdings etwas umständlich entwickelt.

Die „wahren“ Ereignisse aus Mayerling

Wirtstochter Claudia Hendl eröffnet als Autorin „ihren“ Roman mit Vorgeschichte und Erinnerungen an das Auftauchen der seltsamen Dame, gibt dazwischen die Erzählungen der vermeintlichen Kaiser-Urenkelin im (auf dem Smartphone mitgeschnittenen) O-Ton wider, schaltet sich mit Zwischentexten immer wieder ein und kommt erst durch die niedergeschriebene Bekenntnis eines Ex-Mannes von Johanna zum Kern der Geschichte. Rudolfs Leibfiaker Josef Bratfisch soll ihm als Bub anlässlich der Aufbahrung des Thronfolgers die „wahren“ Ereignisse aus Mayerling anvertraut haben. Da mutet „Die allerletzte Kaiserin“ wie eine Matrjoschka-Puppe an, oder wie ein Geschenk, in dem beim Auspacken bloß immer wieder eine neue Schachtel sichtbar wird.

Und dieser Kern? Der ist die abenteuerliche Behauptung, Mord und Selbstmord in Mayerling seien nur vorgetäuscht gewesen, Rudolf und Mary hätten inkognito weitergelebt und einen gemeinsamen Sohn gehabt: Johannas Vater. Ist die schrullige alte Dame also die Enkelin von Kronprinz Rudolf und die Urenkelin von Kaiser Franz Joseph – oder bloß eine fantasiebegabte Aufschneiderin, die aus Geltungssucht oder psychischer Indisposition ein obskures Lügengebäude errichtet hat? Irene Diwiak hält lange geschickt die Waage. Und hat am Ende noch eine Überraschung parat.

Von Wolfgang Huber-Lang

Das könnte Sie auch interessieren