„Am Fluss“ gewesen, Baden gegangen. So einfach könnte man es sich machen, wollte man die gleichnamige Uraufführung von Mazlum Nergiz, die am Samstagabend im Schauspielhaus Wien bejubelt wurde, verreißen. Doch dann würde man missachten, was dabei alles probiert wurde – auch wenn es wohl zu viel zugleich war. Und ausgerechnet Wilhelm Reich, von dem man dachte, dass er im Zentrum des von Christiane Pohle inszenierten Abends stehen werde, kommt nur am Rande vor.
Die Bühne von Charlotte Pistorius zeigt einen Bretterzaun. Dass es sich um einen magischen Ort im New Yorker Hafengebiet am Hudson River handelt, muss man sich dazudenken. Es ist diese Lokalität, die Nergiz, Mitglied des Schauspielhaus-Leitungsteams, zur Engführung von Menschen und Themen inspiriert hat, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. 1956 wurden hier in einer Müllverbrennungsanlage auf gerichtliche Anordnung Bücher des in die USA emigrierten österreichischen Psychoanalytikers und Sexualforschers Wilhelm Reich verbrannt, nachdem er aufgrund seiner Weltanschauung und seiner Forschung in der McCarthy-Ära aufs Korn genommen wurde. In den 1970er-Jahren wurden die verlassenen Lagerhallen zur Cruising Zone schwuler Männer.
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Während Reich nur in kurzen, teilweise abstrus wirkenden, geschrienen Slogans zu Wort kommt („Klassenkampf + Sex = Freiheit“) und die Bücherverbrennung nie gezeigt wird, entwickeln sich zwischen zwei Männern die intensivsten Szenen und ausführlichsten Dialoge: Ein Anwalt und ein Lehrer treiben durch diese dunkle Begegnungszone, in der Gewalt und Gefahr ebenso lauern wie Lust und Erfüllung, und kommen einander nicht nur körperlich näher.
Zu viele Geschichten, zu wenig Zusammenhang
Doch es werden weitere Begebenheiten eingearbeitet: Der Künstler und Architekt Gordon Matta-Clark wählt die Gegend als Schauplatz einer seiner „Cuttings“, bei denen er mit einer Motorsäge Schnitte durch Gebäude macht. Zehn Jahre später stürzt die aus Kuba stammende Konzeptkünstlerin Ana Mendieta, die sich mit Sex und Identitätsfragen beschäftigte und dabei sowohl Blut als auch Feuer verwendete, unter ungeklärten Umständen aus dem 34. Stockwerk eines Gebäudes. Und dann kommt noch jemand ins Spiel, der im KZ Sachsenhausen als „Schuhläufer“ die Robustheit neuer Schuhmodelle getestet haben soll. Dieses Knäuel an Geschichten und Figuren so zu entwirren, dass ein Roter Faden erkennbar wird, gelingt nicht.
Dabei sind auch die formalen Umstände der Koproduktion so bemerkens- wie begrüßenswert. Das Schauspielhaus Wien arbeitet dabei mit dem Slowakischen Nationaltheater zusammen, das unter der gegenwärtigen Regierung bekanntlich zur besonderen Zielscheibe von Repressionen wurde. Dass in Deutsch und Slowakisch gesprochen wird, ist dank der Übertitelung kein Problem, und auch dem Spanisch der Mendieta-Darstellerin folgt man gerne. An den Sprachen liegt es nicht, dass vieles an diesem Abend an einem vorbeifließt, ohne Spuren zu hinterlassen. Ist auch am Theater Renaturierung die Lösung? „Am Fluss“ hätte man sich jedenfalls weniger Staustufen und mehr Stromschnellen gewünscht.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
„Am Fluss“ von Mazlum Nergiz, Regie: Christiane Pohle, Bühne und Kostüme: Charlotte Pistorius, Live-Musik: Lens Kühleitner. Mit Iris Becher, Sofía Díaz Ferrer, Kaspar Locher, Jakub Rybárik, Richard Stanke und Maximilian Thienen. Uraufführung am Schauspielhaus Wien in Koproduktion mit dem Slowakischen Nationaltheater. Auf Deutsch und Slowakisch mit Übertiteln. Schauspielhaus Wien, Wien 9, Porzellangasse 19. Nächste Aufführungen: 4., 6., 7., 11.-14. Dezember, schauspielhaus.at