Wer Macht hat, nimmt

Sechsfach Oscar-nominiertes Porträt „Tár“ mit herausragender Blanchett

Eine Frau, ein Ereignis: Cate Blanchett als Lydia Tár
Eine Frau, ein Ereignis: Cate Blanchett als Lydia Tár © UPI/Focus Features

Ihr Leben ist so geordnet, wie es nur sein kann. Von der Bundfalte bis zur Einrichtung der ganz offensichtlich sündteuren Sichtbetonwohnung in Berlin sitzt alles bei Lydia Tár, dargestellt von Cate Blanchett. Filmemacher – Buch und Regie stammen von ihm – Todd Field gönnt seiner titelgebenden Hauptfigur gleich zu Beginn Balsam.

Ein Journalist zählt die mehr als beeindruckenden Erfolge der Dirigentin auf, nun steht sie kurz vor einer Vollendung — eine Liveaufnahme von Mahlers Fünfter mit den Berliner Philharmonikern, denen der Star der Klassikwelt vorsteht.

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Auch abseits des Universums der großen Gesten ist bei Lydia alles im Takt, mit Ehefrau Sharon (Nina Hoss) und Tochter Petra (Mila Bogojevic) teilt sie Kreativität und Liebe, ihre Treffen zum Mittagessen sind niemals banal, jeder Satz einer Konversation hat höchstes Niveau.

Nach einer Stunde gibt es ein klein wenig Erlösung für die Zuschauer, Lydia Tár steht auf dem Pult auf dem sie — erneut — alles im Griff hat, dirigiert die Musiker, es ist faszinierend, zuzusehen. Doch die Ahnung bahnt sich den Weg, dass es hier einen Bruch geben wird, geben muss. Und er kommt ganz leise daher, zwei Töne schleichen sich in Lydias Komponierwohnung ein und sind nur der Beginn vieler Misstöne, die ihr Leben ins Schwanken bringen werden. Stopp. Besser gesagt, es wird sichtbar, dass Tár bereits lange schwankt.

158 Minuten geraten Field für dieses cineastisches Porträt kaum zu lange, Hauptdarstellerin und Oscar-Favoritin Cate Blachett sowie die detailverliebten Beschreibungen eines ungewöhnlichen Lebens tragen die Dauer.

Witzig, einnehmend, rachsüchtig, verletzend

Die Charakterstudie gelingt dem Filmemacher hervorragend. Tár: witzig, einnehmend, ein wandelndes Lexikon, eloquent, und hinterhältig, rachsüchtig, verletzend, gekränkt, unversöhnlich. Und die Frau nutzt ihre Macht. Einer jungen Stipendiatin macht sie eine Karriere unmöglich, die Gründe nur angedeutet, eine verlassene Geliebte, eine, die die ungebührliche Annäherung Társ ablehnte? Es nimmt ein furchtbares Ende.

Mit einer jungen Cellistin (Sophie Kauer) taucht wieder eine Versuchung auf — es ist in Sharons Augen zu lesen. Wer Macht hat, nimmt, was er will und wenn er es nicht bekommt, wird jemand dafür leiden.

Bei Field ist es eine lesbische Frau, die Sex und Macht, Missbrauch und Hierarchie sichtbar macht. Ist es gut, dass er hier zeigt, dass Macht korrumpiert, egal wen? Eine Diskussion zwischen Tár und einem Studenten, u.a. darüber ob Herkunft, Geschlecht, Religion mit dem Werk eines Künstlers in Zusammenhang gebracht werden kann, ist so zeitgemäß, wie anregend. Wurde von den Männern, die Macht nutzen, andere zerstören, schon genug erzählt?

Harmonie versus Chaos, Lärm, Dissonanz — diesem Prinzip folgt Field bis ins kleinste Details, am Ende sitzt kein Haar mehr richtig auf dem Kopf der alles kontrollierenden Musikerin, die Szenen fließen von der Leinwand, für den Schnitt ist die Tirolerin Monika Willi für einen Oscar nominiert.

Am Ende ist es sehr viel, was Todd Field in diesem Film erzählt und mitunter gehen an der Fülle Nuancen verloren. An anderer Stelle zieht sie jedoch lohnend in den Bann, Blanchett zu sehen, wie sie brilliert, ist es ohnehin wert. Die katastrophale Verbindung von Macht und Missbrauch wird hier zwar eindimensional erzählt und lässt die weitaus größere Tätergruppe unserer Zeit außen vor, aber auch die Gefahr dieser Geschichte sollte niemals nicht erzählt werden.

Von Mariella Moshammer

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