„Das Handy wirkt wie ein Brandbeschleuniger“

Intensiver Social-Media-Konsum kann bei Kindern und Jugendlichen vorhandene psychische Probleme verstärken

Young woman using mobile phone at home

Smartphone, Tablet und Co. sind heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Gerade Kinder und Jugendliche verbringen viel Zeit mit den unterschiedlichsten Social-Media-Kanälen im Netz. Laut der 8. OÖ Kinder-Medien-Studie aus 2022 sind bereits 27 Prozent der Sechs- bis Zehnjährigen in sozialen Netzwerken unterwegs. Bei den Elf- bis 18-Jährigen sind Streaming und Kurzvideos die Renner, viele Stunden gehen laut Jugend-Medien-Studie dafür drauf.

Etwa ein Viertel der Kinder und Jugendlichen hat schon einmal negative Erfahrungen etwa mit Cybermobbing oder „Sexting“ – dem Verschicken sexuell eindeutiger Nachrichten, Fotos und Videos – gemacht.

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Das VOLKSBLATT fragte Marina Gottwald, Klinische Psychologin am Neuromed Campus des Linzer Kepler Uniklinikums, was Social-Media-Nutzung mit den Jugendlichen macht.

„Grundsätzlich haben Social-Media-Kanäle gerade für Jugendliche, die etwas schüchtern sind und sich schwer tun, Kontakte zu knüpfen, den Vorteil, dass sie langsam eine Kommunikation aufbauen und leichter Gleichgesinnte finden können“, sagt Gottwald: „Entscheidend dabei ist aber, dass sie die Handy-Kontakte als Sprungbrett fürs echte Leben nützen und sich dann persönlich treffen. Findet der echte Kontakt nicht statt, kann das negative Auswirkungen auf die Psyche haben.“ Problematisch könne es auch sein, wenn der beste Freund, dann weit weg wohne oder es gar eine größere Zeitverschiebung gebe.

Permanentes Schlafdefizit wird zum Problem

„In der Pubertät verschiebt sich das Einschlafen bei den Jugendlichen aufgrund des Melatoninhaushaltes ohnedies um zwei Stunden, wenn sie dann durch die intensive Handy-Nutzung ein permanentes Schlafdefizit haben oder es gar zu einer Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus kommt, schlägt sich das auf die Psyche, die Reizbarkeit steigt und die Merkleistung wird schlechter“, weiß die Klinische Psychologin: „Wer während der Woche bis zu drei Mal zu wenig Schlaf erwischt, wird auf die Dauer ein Problem kriegen.“

Die intensive Nutzung gehe oft damit einher, „dass Jugendliche Angst haben, etwas zu versäumen, wenn sie nicht ständig online sind und womöglich wie bei SnapChat sogar ausgeschlossen werden, weil sie nicht prompt auf eine Anfrage reagiert haben. Der Gruppendruck macht ihnen zu schaffen. Hinzu kommt, dass viele Aufforderungsmechanismen und Belohnungssysteme eingebaut sind, den einen oder anderen Kanal wieder zu besuchen. Nutzern werden durch Algorithmen Informationen selektiv zugeschnitten, im Gegensatz zu traditionellen Medien mit vielseitigen Ansichten und umfassendem Informationszugang. So passt sich etwa das TikTok-Profil an den Nutzer an“, weiß Gottwald.

Grundsätzlich tritt sie wie die Suchtprävention dafür ein, dass Kinder erst ab dem zwölften Lebensjahr einen Internetzugang haben sollten und die Zeit der Handynutzung klar geregelt wird. „Abends hat das Handy im Kinderzimmer nichts verloren“, sagt die Expertin, die Eltern und Schule in die Pflicht nimmt. Sie sollen mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam deren Handy-Nutzung besprechen und ihnen ein kritisches Hinterfragen beibringen. „Nicht alles, was im Internet oder in den Sozialen Medien kommuniziert wird, entspricht der Wahrheit, im Gegenteil es gibt viele Fake News. Daher gilt es, die Quellen zu hinterfragen.“ Auch der Datenschutz und negative Auswüchse müssten thematisiert werden.

Früher ist kein Jugendlicher herumgelaufen und hat Fotos von sich verteilt

Zudem muss gelernt werden, was es heißt, etwas von sich privat preiszugeben. „Früher ist kein Jugendlicher herumgelaufen und hat Fotos von sich verteilt, jetzt passiert das mehrmals täglich“, betont die Expertin. Eines ist für sie klar, „wer etwas postet, muss in jedem Fall auch mit negativen Reaktionen rechnen, das kann bis hin zu Hasspostings gehen. Da muss ich mir im Vorfeld schon im Klaren sein, wie ich damit umgehe. Extreme Reaktionen sollten nicht hingenommen, sondern zur Anzeige gebracht werden“, rät Gottwald. Sich auf einen Dialog mit von Hass getriebenen Personen einzulassen, empfiehlt die Klinische Psychologin aber nicht: „Es gibt Menschen, sogenannte Trolle, die es bewusst darauf anlegen, jemanden zu ärgern. Mit ihnen zu kommunizieren, bringt überhaupt nichts.“

Gefilterte Fotos verwirren das Gehirn

Eine weitere Problematik ist, dass viele von sich Fotos ins Netz stellen, die durch verschiedene Filter gelaufen sind. Damit werden Schönheitsideale gezeigt, die nicht der Realität entsprechen und mit denen keiner mithalten kann. „Das Gefährliche daran ist, dass selbst, wenn man weiß, dass es sich um ein geschöntes Bild handelt, das Gehirn dennoch die Fälschung als real wahrnimmt und in die Irre geleitet wird. Da braucht es schon eine gesunde Portion an Selbstwert, dass man nicht an seinem Aussehen zweifelt“, sagt Gottwald. Nicht zu vergessen, welche Maschinerie etwa Influencer hinter sich haben, damit der Auftritt perfekt wirkt.

„Scham ist das Hauptgefühl im Jugendalter. Man schämt sich, nicht so gut auszusehen, oder auch, weil man etwas ins Netz gestellt hat, das eine negative Eigendynamik entwickelt hat. Aus Scham trauen sich die Jugendlichen dann nicht, sich jemanden anzuvertrauen.“ Daher ist es umso wichtiger, dass sich Eltern mit den Jugendlichen mit der Thematik auseinandersetzen, denn aufzuhalten sind diese Kanäle nicht mehr.

Keine heimliche Kontrolle des Handys

„Es soll keine heimliche Kontrolle des Handys erfolgen und auch nicht geschimpft werden, wenn ein Fehler passiert ist. Es geht darum, im Vorfeld präventiv zu wirken und wenn bereits eine unangenehme Situation eingetreten ist, daraus zu lernen“, erläutert Gottwald.

Konnte früher im Fall eines Mobbings ein Schul- oder Ortswechsel Abhilfe schaffen, ist das bei Cybermobbing sinnlos. Man könne nicht mehr davonlaufen. Meldungen verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und das sieben Tage die Woche, 24 Stunden lang – die Anonymität des Netzes beflügle viele sogar, ungeniert Kommentare ins Netz zu stellen, die sie sich im direkten Gespräch nicht zu sagen getrauen.

Aber auch ein wohlwollender Chat berge das Risiko von Missverständnissen. Daher sollte man mehr im direkten Kontakt am Telefon oder von Angesicht zu Angesicht kommunizieren, weil man unmittelbar auf die Reaktion des anderen eingehen kann.

Damit der intensive Handy- und Social-Media-Konsum nicht in die Psychiatrie führt, rät Gottwald, den Kindern eine aktive Freizeitgestaltung zu bieten, von Outdoor-Erlebnissen über Mitgliedschaften in Vereinen. Es brauche viele persönliche Kontakte aber auch eine „Digitale Kompetenz“. Hier sieht sie viel Nachholbedarf bei den Eltern, um mit den Kindern mithalten und als Korrektiv auftreten zu können.

Erschreckend sei, dass früher der Aktionsradius der Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen rund fünf Kilometer betragen habe, jetzt seien es nur noch 500 Meter. Und es sei keinesfalls beruhigend, wenn sich die Freizeit nur noch im Kinderzimmer abspiele. Natürlich sei ein Video-Chat mit Freunden bequemer als sich außer Haus zu treffen, aber die offensichtlichen Folgen seien auch, dass Freundschaften viel unverbindlicher und oberflächlicher werden.

„Etwa indem jemand bis zum Schluss alles offen lässt oder sich vor einem Treffen kurzfristig umentscheidet. Eltern müssen ihren Kindern wieder Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit beibringen“, bemerkt die Klinische Psychologin.

Ganze Bandbreite an psychischen Problemen tritt auf

Wenn die Reißleine zu spät gezogen wird, dann landen Kinder mit psychischen Problemen im Med Campus IV. und ab der 5. Schulstufe mit etwa elf Jahren im Neuromed Campus auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Als Versorgungseinrichtung sehen wir bei Kindern und Jugendlichen die unterschiedlichsten psychischen Störungen. Bei einer schweren Depression oder Suizidgefahr kommen sie rasch, bei Zwangsstörungen kann es bis zu sieben Jahre dauern, dass die Betroffenen in Behandlung kommen. Grundsätzlich ist die intensive Handy-Nutzung kein Auslöser, aber das Handy ist ein Brandbeschleuniger. Es verstärkt vorhandene psychische Probleme. Wir hatten zum Beispiel plötzlich einen Hype von Nachahmern mit angeblichen Tickstörungen, ausgelöst durch einen Influencer. Andere Jugendliche sehen stundenlang einem Influencer beim Videospiel zu und vergessen die Welt um sich. Manche Patienten wiederum können auch Monate nach einem Cybermobbing psychische Folgestörungen dieser Traumatisierung entwickeln“, berichtet die Expertin.

Faktum ist, dass die 22 im Neuromed Campus auf zwei Stationen zur Verfügung stehenden Betten für Jugendliche mit psychischen Problemen ebenso laufend ausgelastet sind, wie jene zehn auf der geschlossenen Abteilung, wo sich Jugendliche mit einer Fremd- oder Selbstgefährdung befinden. Für die Kinder und Jugendlichen in Spitalsbehandlung gibt es dann klar reglementierte Handy-Zeiten und dazwischen ein buntes Programm an Therapien – in Gruppen und Einzelsettings. Die Zielsetzung dabei ist, dass der Betroffene wieder schul- oder arbeitsfähig wird und lernt mit seinem Problem umzugehen. Bei manchen Fragestellungen könne der Patient rasch wieder entlassen werden, andere benötigen noch Jahre nach dem stationären Aufenthalt eine begleitende Therapie im niedergelassenen Bereich.

„Das Hirn braucht Beschäftigung, wenn diese jedoch nur noch einseitig erfolgt, kommt es zu einer Fehlentwicklung. Und je früher man diese erkennt und gegensteuert, umso besser ist es“, betont Gottwald.

Von Michaela Ecklbauer