„Mein Fall“ ist kein Einzelfall

Stifterhaus: Autor Josef Haslinger über Gewalt im Stift Zwettl

Josef Haslinger am Dienstag im Linzer Stifterhaus
Josef Haslinger am Dienstag im Linzer Stifterhaus © Stifterhaus/Kluckner

Er war zehn Jahre alt, schreibt Josef Haslinger in „Mein Fall“ (S. Fischer), als Pater Gottfried „sich für meinen kleinen Penis zu interessieren begann und dabei ganz offensichtlich in Erregung geriet“.

Haslinger, 1955 in Zwettl geboren, war in den 1960ern Zögling im Sängerknabenkonvikt Stift Zwettl. Zwei Jahre dauerten die Übergriffe von Pater Gottfried, groß die Angst des Buben, die Zuneigung des Paters zu verlieren. Er war der einzige, „der mich tröstete, wenn andere mich hänselten oder verdroschen“.

Puzzleteile einer gewalttätigen Struktur

Haslinger schrieb „Mein Fall“ im Bewusstsein, dass er eben kein Einzelfall war. Sexuelle Übergriffe und Gewalt waren systemisch. Exemplarisch auch Haslingers Umgang mit traumatisierenden Erfahrungen.

Als Erwachsener von sich das Bild selbstbestimmten Lebens, zu dem das Bild des hilflosen Knaben nicht passte. Spät anerkannte er, dass die Erinnerung „mich verfolgt hat“. Bis zur Erkenntnis, dass er sich „nach wie vor in hohem Maße mit den Tätern identifiziere“.

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Der Roman „Opernball“ (1995) machte Haslinger als Schriftsteller bekannt, am Dienstag las er im randvollen Linzer Stifterhaus und sprach mit Ö1-Mann Günter Kaindlstorfer. „Mein Fall“ schrieb Haslinger erst, nachdem die darin Genannten verstorben waren. Das trug ihm mehrfach Vorwürfe ein, Grundtenor „Über Tote nur Gutes“. Haslinger vor der Wahl zwischen mehreren schlechten Möglichkeiten („Double-Binding“): Er schonte die Täter, als sie noch lebten, nach ihrem Tod sollte er weiter schweigen.

Im Stifterhaus Puzzleteile einer gewalttätigen Struktur. Ein Pater Franz, der einem Schüler drohte, er werde seinen Schädel gegen die Tafel schlagen, „dass der Baatz runterrinnt“. Pater Bruno, der Präfekt: „Er war ein Gewalttäter.“ Bei ihm holten sich die Schüler „ihre Watschen ab“, die Hände mussten sie dabei auf die Hosennaht pressen. Gefürchtet der Stock, „Onkel Max“ genannt, mit dem Pater Bruno Knabenhintern züchtigte.

Haslingers Meinung zur „Unabhängigen Opferschutzkommission“ unter dem Vorsitz der ehemaligen steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic? Es freue ihn, dass es diese Stelle gibt. Gut für die Opfer, allerdings habe die Kommission keinen Zugriff auf die Täter. Das Verschweigen werde gesamtgesellschaftlich fortgesetzt. Haslinger nennt als Vorbilder die USA, Australien und Irland, wo staatliche Untersuchungen in kirchlichen Institutionen möglich sind.

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