Mord und Totschlag bleiben oft unentdeckt

Sinkende Zahlen bei Gerichtsmedizinernund Obduktionen haben gravierende Folgen für Rechtsstaat

Immer weniger Tote werden obduziert, was so manchem Mörder die gerechte Strafe ersparen dürfte. © Pictures news - stock.adobe.com

„Wir stehen derzeit am Rand eines Abgrunds und werden in den nächsten Jahren leider einen Schritt weiter — in den Abgrund — sein“ – so drastisch beschreibt Walter Rabl den Zustand der Gerichtsmedizin in Österreich.

Der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin (ÖGGM) und Vizechef des gerichtsmedizinischen Instituts Innsbruck ruft ein seit Jahren virulentes Problem in Erinnerung: Immer seltener werden Leichen obduziert.

Wurden 1984 in Österreich noch 30.737 Menschen nach ihrem Ableben einer Autopsie zugeführt, waren es 2018 nur noch 8593 (für 2019 liegen noch keine Zahlen vor).

Ungeschorene Mörder

Obwohl der Rückgang nur sanitätsbehördliche bzw. klinische Obduktionen (in Spitälern) und nicht die gerichtlich angeordneten Leichenbeschauen betrifft, sind die Folgen dramatisch, wenn auch nicht genau zu beziffern.

Denn so mancher Mörder dürfte mangels Feststellung der wahren Todesursache ungeschoren bleiben. „Zwangsläufig werden bei zunehmend sinkender Obduktionsfrequenz auch Traumen als scheinbar natürliche Todesfälle qualifiziert”, so Rabl zum VOLKSBLATT.

Wieviele Morde unentdeckt bleiben, kann auch er nur vermuten: Bei Tötungsdelikten wie Mord, fahrlässige Tötung, Totschlag „dürfte für Österreich ein Verhältnis von erkannt zu unerkannt von eins zu zwei durchaus realistisch sein”, schätzt Rabl. Im Klartext: Jede dritte Bluttat könnte als natürlicher Tod durchgehen.

Die Statistik gibt indirekt eine zumindest vage Auskunft: 1984 wurden bei den mehr als 30.000 Obduktionen 112 Morde bzw. tätliche Angriffe festgestellt. im Jahr 2000 wurden nur 19.451 Autopsien durchgeführt — und 65 Bluttaten aufgedeckt. 2018 waren es nur noch 48.

Eigentlich ist das Problem bekannt. Schon 2014 hatte der Wissenschaftsrat einen Bericht zu Lage der universitären Gerichtsmedizin in Österreich erstellt und auf gravierende Mängel hingewiesen. Der damalige Vizevorsitzende des Rates, Walter Berka, äußerte die Vermutung, „dass die Ursache von bis zu 30 Prozent der Todesfälle nicht sachkundig aufgeklärt wird“.

Gerichtsmedizinermangel

Konsequenzen hatte der Bericht keine. Der Mangel an Gerichtsmedizinern ist seither noch größer geworden, weil immer mehr in Pension gehen und es zu wenig Nachwuchs gibt.

Obwohl das 1875 gegründet gerichtsmedizinische Institut in Wien das älteste der Welt ist, wird an der Med-Uni in der Bundeshauptstadt Gerichtsmedizin nicht einmal mehr als eigenes Fach gelehrt. Nur in Linz, Graz und Innsbruck enthält der Lehrplan Gerichtsmedizin als eigenständiges Modul.

Unattraktiver Beruf

Prinzipiell wäre die Kapazität für zehn Ausbildungsplätze in Österreich vorhanden, tatsächlich wird das Potenzial aber nur zur Hälfte ausgeschöpft, betont Rabl und nennt als eine der Ursachen die mangelnde Attraktivität dieses Berufes. Es gebe „kein vernünftiges Karrieremodell für ausgebildete Gerichtsmediziner“. Auch finanziell gibt es keine Anreize. Gerichtsmedizinische Ausbildungsassistenten haben zwar keine Wochenend-, Feiertags- und Nachtdienste, aber daher auch nicht die entsprechenden Zulagen zur Grundgage von 2800 Euro brutto. Zudem gibt es nach der Ausbildung kaum Chancen auf Weiterbeschäftigung.

Obwohl der Job hochspannend ist, entscheiden sich interessierte Jungärzte aufgrund der tristen Perspektiven dann doch meist für eine lukrativere Fachrichtung. Auch der Sachverständigenjob ist wenig einträglich: Nach Medizinstudium, sechsjähriger Facharztausbildung und fünf Jahren Praxis kann ein gerichtlich beeideter Sachverständiger für die einfache Obduktion 93,50 Euro verrechnen, für die Leichenbeschau mit kompliziertem Gutachten sieht das Gebührenanspruchsgesetz 187,20 vor. Die Beträge sind seit 13 Jahren unverändert, also real um 17 Prozent gesunken.

Kein Wunder, dass auch hier ein akutes Nachwuchsproblem besteht: Das Durchschnittsalter der gerichtsmedizinischen Sachverständigen liegt bei 60 Jahren.

Der Personalmangel findet seinen Niederschlag nicht nur in weniger Obduktionen, sondern wirkt schon im Vorfeld negativ. Da Gerichtsmediziner auch in der Polizeiausbildung eine wichtige Rolle spielen, warnte der Wissenschaftsrat schon vor sechs Jahren: „Schwindender Nachwuchs an den gerichtsmedizinischen Instituten lässt auch die Kriminalistik einen Wissensrückgang befürchten, der das Risiko der Fehlbeurteilung von Delikten und Tathergängen erhöht.“

Seinerzeit wurde der Bericht ignoriert, beklagt ÖGGM-Präsident Rabl und fordert die Verantwortlichen auf, ihn endlich aufmerksam zu lesen. Damit der Schritt in den Abgrund noch vermieden werden kann.

Von Manfred Maurer

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