Nationen sind für Juncker Voraussetzung für die EU

Ex-EU-Kommissionspräsident Juncker ist gegen das Konstrukt von Vereinigten Staaten von Europa und für einen Dialog mit Russland

Dass Europa heute ein „Hort des Friedens“ ist, sei eine „globale Leistung“, sagte Jean-Claude Juncker
Dass Europa heute ein „Hort des Friedens“ ist, sei eine „globale Leistung“, sagte Jean-Claude Juncker © Eurochambres

Wie die EU zu einer Liebesgeschichte werden kann, warum Vereinigte Staaten von Europa keine Option sind und weshalb nationale Regierungen nicht kläffen sollten: Das erklärt Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Interview.

VOLKSBLATT: Ende November 2019 sind Sie als EU-Kommissionspräsident zurückgetreten. Empfinden Sie heute noch dieselbe Begeisterung für das gemeinsame Europa wie damals?

JUNCKER: Man wird nicht als Europäer im enthusiastischen Sinne geboren. Ich habe mir das vor allem durch meinen Vater angeeignet. Er wurde als deutscher Wehrmachtssoldat im Zweiten Weltkrieg zwangsrekrutiert und hat seine Jugend in einer verhassten Uniform verbracht. Und ich bekam von Kindesbeinen an von meinem Vater mitgegeben, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.

Betonen Sie damit die EU als Friedensprojekt?

Die Europäische Union verdankt der Kriegsgeneration sehr viel. Denn sie haben aus dem Nachkriegsgebet „Nie wieder Krieg“ geholfen, ein politisches Programm zu entwickeln, das bis heute seine Wirkung zeitigt. Diese Begeisterung für Europa habe ich mir bis heute bewahrt. Die EU ist ein andauernder Hort des Friedens und diese globale Leistung der Europäer sollte man nicht unterschätzen.

Warum sind die osteuropäischen Staaten, die selbst sehr von der Union profitieren, dann so EU-kritisch?

Ich weigere mich, die Mitgliedschaft der Mittel- und Osteuropäer nur unter dem Aspekt finanzieller Zuwendungen zu sehen. Es gab vielmehr Mitte der Neunziger-Jahre einen Drang, in dieser europäischen Solidaritätssphäre einen Platz zu finden. Das waren neue Demokratien, wiederentdeckte nationale Souveränitäten. Es ging um die Wiederversöhnung europäischer Geografie und Geschichte.

Kritiker orten in Ungarn und Polen rechtsstaatliche Probleme. Wie soll sich die EU dabei verhalten?

Man muss da Kurs halten. Der Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit ist von essenzieller, vitaler Bedeutung. Das ist vor allem ein Schutzschild für kleinere und mittlere Staaten wie Luxemburg und Österreich.

Denken Sie, dass die Kommission zu wenig Kompetenzen in wichtigen Fragen hat?

Nein. Ich wünschte mir erweiterte Kompetenzen in essenziellen Zukunftsbereichen wie Außen- und Sicherheitspolitik. Aber die EU-Kommission hat Zuständigkeiten, die es ermöglichen, als Gemeinschaft Mitsprache auszuüben. Und sie hat auch exklusive Zuständigkeiten wie etwa die Handelspolitik.

Vermittelt diese Bündelung der Kompetenzen eine europäische Stärke?

Das zeigt sich im Umgang mit internationalen Partnern. Als die europäischen Premierminister nichts erreicht haben im sich anbahnenden Handelskonflikt mit den USA, konnte ich zu Präsident Donald Trump sagen: Ich als Kommissionspräsident kann für die Union sprechen. Wenn Europa mit einer Stimme auftritt, erzeugt das eine Wirkung. Wir sind ja nicht irgendwer auf der Welt. Der Anspruch, globale Prozesse mitzugestalten, besteht nur, wenn wir mit einer Stimme sprechen.

Wäre eine Konstitution à la USA besser?

Zu denken, wir könnten die EU in ein Konstrukt einbinden, das man als Vereinigte Staaten von Europa bezeichnet, ist nicht meine Sicht der Dinge. Denn die Nationen sind keine provisorische Erfindung der Geschichte. Sie sind auf Dauer angelegt. Man kann die EU nicht ungefragt auf Kosten der nationalen Staaten verstärken, wie es viele fordern. Die EU hat da Gegner und unglücklich agierende Freunde.

Inwiefern?

Die Gegner wollen alles, was mit Europa zu tun hat, in nationalen Kellern einmauern. Und die unglücklich agierenden Freunde sind diese Euro-Enthusiasten, die so tun, als wenn die EU zu einem Schmelztiegel werden könnte, in dem sich alles auflöst, was an historisch gewachsenem Nationalem besteht.

Schneiden EU-Gegner nicht letztlich den Ast ab, auf dem sie sitzen, weil Nationalstaaten allein im Konzert der Großen nicht bestehen könnten?

Die EU wird außerhalb Europas immer bewundert. Es herrscht Erstaunen darüber, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg zustande gebracht haben. Wer Europa weiterbringen möchte, muss die Nationen respektieren. Und um Nationen bleiben zu können, müssen diese die europäische Integration vollinhaltlich unterstützen. Aber ich will mich in die Föderalismus-Debatte nicht zu sehr einmischen. Die Briten haben mich immer als verrückten Föderalisten bezeichnet.

Wie bezeichnen Sie Ihrerseits die Briten nach dem Brexit?

Als ein nicht im Sinne der Geschichte agierendes Volk. Alles deutet auf die Notwendigkeit engerer Zusammenschlüsse europäischer Nationen im Rahmen der EU hin. Wer sich da verabschiedet, handelt nicht im Sinne der Geschichte, sondern fällt in enges nationalstaatliches Denken zurück, dessen Folgen man ja derzeit beobachten kann.

Sie waren für manche rechte nationalistische Parteien ein Feindbild. Wie sind Sie persönlich damit umgegangen?

Ich habe da Wut in vorübergehenden Ärger verwandelt, weil ich immer die Befürchtung habe, dass man auch in den klassischen politischen Familien den Fehler macht, diesen extremen Kräften Auftrieb zu geben, indem man anfängt, teilweise oder ganz dasselbe zu sagen wie sie. Wer den Populisten auf den Leim geht, indem er so redet wie sie, wird selbst zum Populisten. Das sollten alle nationalen Regierungen genau bedenken. In Brüssel zuzustimmen und zu Hause so zu tun, als ob die EU eine Organisation wäre, mit der man nichts zu tun haben will, das geht nicht. Zu Hause zu kläffen und in Brüssel nicht zu bellen, das geht nicht.

Wird uns China überflügeln?

Wir müssen unsere Weltpolitik-Fähigkeit vergrößern, weil wir es mit neuen Wettbewerbern zu tun haben. China etwa ist ein willkommener Handelspartner, aber auch ein Rivale. Wir müssen deutlich machen, dass es nicht so bleiben kann, dass chinesische Firmen freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben, europäische Firmen aber nur einen eingeschränkten Zugang zum chinesischen Markt.

Wie soll die EU mit Russland umgehen?

Ich bin der Meinung, dass es keine europäische Sicherheitsarchitektur gibt ohne Russland, allein schon geografisch. Ich wünsche mir, dass sich unser Verhältnis zu Russland normalisiert. Das kann man nicht tun in Fragen die Krim betreffend. Aber wir müssen im Gespräch bleiben, wir brauchen mehr Kultur- und Studentenaustausch. Das wirkt ja in den zwischenmenschlichen Beziehungen nach. Darin steckt der Stoff, aus dem künftige Politik gemacht wird.

Hat es die EU schwer, in die Herzen zu gelangen?

Man kann sich in viele Dinge in Europa nicht verlieben, obwohl sie essenziell wichtig sind. Man kann sich nicht in den Binnenmarkt verlieben oder in die Währungsunion. Aber man kann sich, wenn man aufnahmebereit ist, in den europäischen Traum verlieben und in die Tatsache, dass wir zusammenstehend einiges an Gewicht in der Welt entwickelt haben.

Mit Ex-Kommissionspräsident JEAN-CLAUDE JUNCKER sprach Christian Haubner

Der Autor war auf Einladung von Eurochambres Wien in Brüssel.

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