Nazi im Kultur-Mäntelchen

Keplersalon: Historiker Oliver Rathkolb über Baldur von Schirach

Historiker Oliver Rathkolb
Historiker Oliver Rathkolb © Harald Eisenberger

David Frost, der 1977 in einem legendären TV-Interview Richard Nixon der Lüge überführte, sprach 1968 mit Baldur von Schirach (dieses knapp 40-minütige Interview ist auf Youtube abrufbar). Frost fragt nach den ersten Eindrücken von Hitler in München, Schirach antwortet mit einem Glänzen in den Augen. Er sei beeindruckt gewesen vom kultivierten Auftreten und der „gewissen Schüchternheit“ („certain shyness“) Hitlers.

Tarnen und täuschen, oft glauben politische Akteure auch selbst ihren Rollen. Oliver Rathkolb, in Wien lehrender Historiker, nennt das Frost-Interview ein „Schlüsseldokument“ über einen „Nationalsozialisten, der nichts aus der Geschichte gelernt hat und sich nicht mit seiner Verantwortung auseinandersetzen wollte“. Der 24-jährige Schirach wird 1931 zum Reichsjugendführer ernannt, formt in den Folgejahren Hunderttausende zu Kanonenfutter für Hitlers Krieg. 1940 wurde Schirach Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien, ließ in diesen Funktionen die jüdische Bevölkerung in die Todeslager deportieren.

Oliver Rathkolbs Buch „Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“ (Molden 2020) war am Montag Grundlage des Gesprächs im virtuellen Linzer Keplersalon, Auftakt auch zur Reihe „Dunkelkammer“ von Gastgeberin Karin Wagner. Rathkolb skizzierte die Verschleierungstechniken Schirachs, von Nürnberg bis Frost. Im Nürnberger Prozess (ab 1946) wurde Schirach für die Deportation von 185.000 österreichischen Juden verurteilt. Er entkam der Todesstrafe, fasste zwanzig Jahre in Berlin/Spandau aus. Schirachs Strategie stets „geschickt“, so Rathkolb. Dass Deportationen in die Lager keine „Umsiedelung“ waren, sei um 1942/43 auch mittleren Funktionären klar gewesen. Schirach habe das Wissen um die Vernichtung „immer abgestritten“.

Schirach, Spross einer preußischen Offiziersfamilie, als Hitlers „Türöffner“ (Rathkolb) in die „bessere Gesellschaft“. Schirach als Propagandist des totalen Gehorsams für die deutsche Jugend. Das Mäntelchen der Kultur — Mozart! Grillparzer! —, das sich Schirach besonders in Wien umhängte. All diese Themen erhellt Rathkolb im Gespräch, das auf Youtube abrufbar ist (Stichwörter kepler+salon).

Eine Trotzreaktion, etwas wie ein (unbeabsichtigtes) spätes Schuldbekenntnis? Schirach starb 1974, auf seinen Grabstein ließ er „Ich war einer von euch“ schreiben.

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