Menschenrechtsorganisation: Erdogan nützt das Erdbeben für „ethnische Säuberung“

Menschenrechtsorganisation warnt vor weiterer Zerstörung kurdischer Identität durch von der Türkei und Katar finanzierte Islamisten-Milizen

Erdogan im Bebengebiet: Politische Nachbeben könnten ihn veranlassen, mit einem „Erfolg“ in Nordsyrien abzulenken.
Erdogan im Bebengebiet: Politische Nachbeben könnten ihn veranlassen, mit einem „Erfolg“ in Nordsyrien abzulenken. © AFP/Altan

Der Naturkatastrophe droht im Norden Syriens eine menschengemachte Tragödie zu folgen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht das Chaos nach dem Erdbeben auszunützen, um ein seit fünf Jahren verfolgtes Ziel endgültig zu erreichen: Die „ethnische Säuberung“ der Kurdengebiete jenseits der Grenze.

Vor diesem Hintergrund sind auch Meldungen über türkische Angriffe im nordsyrischen Bebengebiet zu sehen. Kamal Sido, Nahost-Experte der deutschen Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), kann aufgrund direkter Kontakte in die Region bestätigen: Die Angriffe auf das Umland der Stadt Tall Rifaat kamen aus dem bereits von der Türkei besetzten Gebiet A zaz.

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Ob der Beschuss, der zum Glück nur Sachschaden anrichtete, direkt von türkischem Militär oder von einer in türkischem Sold stehenden Islamisten-Miliz kam, lasse sich nicht mit Sicherheit sagen, betont Sido im VOLKSBLATT-Gespräch.

„Kurden haben Angst“

Aber die Verantwortung sieht er klar bei Erdogan: „Die Kurden haben Angst, dass dieses Erdbeben dazu benutzt wird, die kurdische Identität in der Region endgültig zu zerstören.“ Wie der türkische Präsident dabei vorgeht, hat er in Afrin vorgeführt: Gemeinsam mit islamistischen Milizen erorberten türkische Truppen 2018 die Stadt in der nordwestsyrischen Region Aleppo.

In den von geflüchteten Kurden zurückgelassenen Häusern siedeln die Türken seitdem gezielt Araber an. Ein Jahr später besetzte die Türkei 2019 die nordöstlichen Regionen Ras al Ain und Tall Abyad. In den drei Gebieten werden Siedlungen errichtet, in die Erdogan eine Million syrische Flüchtlinge aus der Türkei schicken will. Da sie dort kaum eine wirtschaftliche Basis vorfinden werden, dürfen sich die dort schon jetzt dominierenden Islamisten auf neues Radikalisierungspotenzial freuen.

Allzu viel Kritik aus Europa hat der Sultan nicht zu befürchten: Jeder aus der Türkei abgeschobene Syrer ist einer weniger, der nach Europa weiterziehen könnte.

Da Erdogan drei Monate vor der Wahl wegen seiner Versäumnisse in der Erdbebenvorsorge zusätzlich unter Druck gerät, drängt sich ein großtürkischen Nationalisten gefallendes Ablenkungsmanöver in Nordsyrien auf Kosten der Kurden geradezu auf. Dass Erdogan dabei gemeinsame Sache mit Islamisten macht, ist nicht einmal neu.

Auch an Geld mangelt es nicht: Zehn Milliarden Dollar aus dem islamistischen Golfstaat Katar, offiziell als Wirtschaftshilfe deklariert, habe die Türkei erst kürzlich bekommen. Sido: „Der internationale sunnitische Islamismus wird von der Türkei geleitet, von Katar finanziert.“ Und Sido sieht eine weitere Möglichkeit zur Finanzierung der Erdogan’schen Träume: „Auch Erdbebenhilfe könnte für militärische Zwecke benutzt werden.“

Von Manfred Maurer

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