
Im französischen Parlament sind wegen der umstrittenen Pensionsreform am Freitag zwei Misstrauensanträge gegen die Regierung eingereicht worden. Anlass war die Ankündigung der Regierung vom Vortag, die Pensionsreform ohne parlamentarische Abstimmung durchzusetzen. Die Nationalversammlung wird voraussichtlich am Montag über die Anträge abstimmen. Es gilt als wenig wahrscheinlich, dass die Regierung von Premierministerin Élisabeth Borne gestürzt wird.
Ein fraktionsübergreifender Misstrauensantrag wurde von der kleinen Zentrums-Mitte-Partei Liot gestellt. „Die Abstimmung über diesen Antrag bedeutet den Ausweg aus der Krise“, sagte Bertrand Pancher, Chef der liberalen Fraktion Liot, in Paris. Auch Abgeordnete des linken Bündnisses Nupes hätten den Antrag unterzeichnet. Das rechtsnationale Rassemblement National brachte einen eigenen Antrag ein, der von keiner der übrigen Oppositionsparteien unterstützt werden dürfte. Die Frage ist, ob einige Abgeordnete der konservativen Républicains, die die Reform grundsätzlich unterstützt hatten, für den fraktionsübergreifenden Antrag stimmen und unter Umständen auch rechtsnationale Abgeordnete.
Falls eine absolute Mehrheit der Abgeordneten für den Misstrauensantrag stimmt, ist die Reform abgelehnt und die Regierung muss zurücktreten. Dann könnte Präsident Emmanuel Macron einen neuen Premierminister ernennen oder Neuwahlen ausrufen. Sollte keine absolute Mehrheit für den Misstrauensantrag zustande kommen, ist die Pensionsreform endgültig verabschiedet. Das Vorgehen der Regierung hatte die seit Wochen anhaltenden Proteste in Frankreich erneut angefacht.
Die Pensionsreform gilt als das wichtigste Reformprojekt von Präsident Macron. Das Pensionsantrittsalter wird dadurch von 62 auf 64 Jahre erhöht. Zudem sollen die Mindestpension bei voller Beitragszeit auf 1.200 Euro angehoben und die Beschäftigung von Senioren gefördert werden. In letzter Minute hatte die Regierung am Donnerstag die Sorge, dass doch nicht genügend Abgeordnete der Reform zustimmen und griff deshalb zu einem Sonderartikel der Verfassung. Gegen das Vorgehen der Regierung gab es am Freitag landesweit Proteste.
Am Freitag in der Früh blockierten Demonstranten etwa eine halbe Stunde lang die Pariser Stadtautobahn. Die Gewerkschaft CGT kündigte die Stilllegung einer Raffinerie in der Normandie an. Bisher waren die Raffinerien zwar teilweise blockiert, hatten aber weiter produziert. Auch in anderen Städten wie etwa Rennes und Brest blockierten Protestierende zeitweise Straßen, berichtete die Zeitung „Le Parisien“. Gymnasien und Universitäten wurden teils von protestierenden jungen Leuten blockiert, wie etwa in Clermont-Ferrand und Lille. Die Gewerkschaften planen am nächsten Donnerstag erneut einen landesweiten Streik- und Protesttag.
Die streikende Müllabfuhr in Paris wurde unterdessen vom Polizeipräfekten zum Dienst verpflichtet, um mit der Beseitigung von rund 9.000 Tonnen aufgehäuften Mülls aus den Straßen zu beginnen. Die Behinderungen im öffentlichen Nahverkehr und bei der französischen Bahn blieben am Freitag überschaubar. Im südfranzösischen Toulon aber besetzten Demonstranten Bahngleise und brachten den Zugsverkehr zum Erliegen, berichtete der Sender BFMTV. Auch in Bordeaux stürmten Demonstranten den Bahnhof.
Die Zahl der Festnahmen nach Ausschreitungen in mehreren Städten am Vorabend stieg unterdessen auf 310. Am Donnerstagabend hatte die Polizei in Paris eine Demonstration mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst. Auch in anderen Städten war es zu Demonstrationen und teilweise auch zu Ausschreitungen gekommen. In Paris führt zudem der Streik der Müllabfuhr zu wachsenden Müllhaufen und Gestank in der Stadt.
Unterdessen bemühten sich Regierungsmitglieder in Interviews um Schadensbegrenzung. Die Anwendung des Verfassungsartikels bedeute „kein Scheitern“, betonte Arbeitsminister Olivier Dussopt: „Es gibt einen Gesetzesentwurf, und wenn die Misstrauensanträge abgelehnt werden, dann wird er auch in Kraft treten.“ Regierungssprecher Olivier Véran zeigte sich zuversichtlich, dass es nicht zum Sturz der Regierung kommen werde. „Wir sind dazu aufgerufen, weiter zu regieren“, betonte er.