UNO und EU: „Zusätzliche Hilfslieferungen unzureichend“

UNO-Generalsekretär António Guterres © APA/AFP/CHARLY TRIBALLEAU

Die Vereinten Nationen und die Europäische Union haben die von Israel angekündigten zusätzlichen Hilfslieferungen für den Gazastreifen kritisiert. „Es reicht nicht aus, vereinzelte Maßnahmen zu haben – wir brauchen einen Paradigmenwechsel“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres am Freitag in New York. Auch EU-Ratspräsident Charles Michel schrieb auf „X“, die von Israel angekündigte vorübergehende Öffnung weiterer Zugänge zu dem Küstengebiet „reicht nicht aus“.

Israel hatte angesichts zunehmenden Drucks seitens seiner wichtigsten Verbündeten – etwa der USA – die vorübergehende Öffnung weiterer Grenzübergänge für Hilfslieferungen in den Gazastreifen angekündigt. Die verstärkten Hilfslieferungen sollen laut dem Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu über den Grenzübergang Erez und den 40 Kilometer nördlich gelegenen Hafen Ashdod erfolgen, um „eine humanitäre Krise zu vermeiden“. Zudem wollten die Behörden auch die Aufstockung von direkten Hilfslieferungen aus Jordanien über den Grenzübergang Kerem Schalom im Süden ermöglichen.

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„Wenn die Tür für Hilfe geschlossen ist, öffnet sich die Tür für das Verhungern“, warnte Guterres. Mehr als eine Million Menschen, etwa die Hälfte der Bevölkerung des abgeriegelten Küstenstreifens, seien von katastrophalem Hunger bedroht. „Nichts kann die Kollektivstrafe für die Palästinenser rechtfertigen“, sagte der UNO-Generalsekretär weiter.

Internationalen Experten zufolge droht vor allem im Norden Gazas eine Hungersnot, die schlimmste Form der Hungerkrise. Guterres äußerte sich eher zurückhaltend zu den jüngst von Israel angekündigten Schritten, mehr Hilfslieferungen zu ermöglichen. Er hoffe, dass die Ankündigungen „effektiv und schnell“ umgesetzt würden, denn die Lage im Gazastreifen sei „absolut verzweifelt“. „Es braucht wegen der dramatischen humanitären Bedingungen einen Quantensprung bei den Lieferungen lebensrettender Hilfe, einen wirklichen Paradigmenwechsel“, sagte Guterres.

Nach dem tödlichen Angriff auf internationale humanitäre Helfer im Gazastreifen forderte Guterres einen grundlegenden Strategiewechsel des israelischen Militärs. Israel habe Fehler eingeräumt und einige disziplinarische Konsequenzen angekündigt. „Aber das grundlegende Problem ist nicht, wer die Fehler gemacht hat, es sind die bestehende militärische Strategie und die Vorgehensweise, die es ermöglichen, dass diese Fehler immer wieder passieren“, sagte Guterres weiter.

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Seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast sechs Monaten seien bereits rund 200 humanitäre Helfer getötet worden, etwa 175 davon UN-Mitarbeiter, kritisierte Guterres. Der jüngste Angriff sei „entsetzlich“. Am Montag waren bei einem Luftangriff der israelischen Armee im Gazastreifen sieben Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Central Kitchen ums Leben gekommen. Dies hatte scharfe internationale Kritik und ein Schuldeingeständnis Israels zur Folge gehabt.

Die israelischen Fehler zu beheben, bedürfe einer unabhängigen Untersuchung und messbaren Veränderungen vor Ort, forderte Guterres. „In seiner Geschwindigkeit, dem Ausmaß und der unmenschlichen Brutalität ist der Gaza-Krieg der tödlichste Konflikt – für Zivilisten, für humanitäre Helfer, für Mitarbeiter im Gesundheitswesen und für unsere eigenen Kollegen“, sagte der UN-Generalsekretär weiter.

Guterres zeigte sich außerdem besorgt über Berichte, wonach Israel Künstliche Intelligenz (KI) für die Identifizierung von Zielen im Gazastreifen nutze. „Entscheidungen über Leben und Tod, die ganze Familien betreffen, sollten nicht der kalten Berechnung von Algorithmen überlassen werden“, sagte der UNO-Generalsekretär.

Israel hatte am Freitag unmittelbare Maßnahmen für mehr humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung des Gazastreifens angekündigt. Diese seien bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts am späten Donnerstagabend beschlossen worden, hieß es in der israelischen Erklärung weiter. „Diese verstärkte Hilfe wird eine humanitäre Krise verhindern und ist unerlässlich, um die Fortsetzung der Kämpfe zu gewährleisten und die Ziele des Krieges zu erreichen“, zitierte die israelische Zeitung „Haaretz“. Der Grenzübergang Eretz war seit seiner Zerstörung während des Großangriffs von palästinensischen Extremisten auf Israel am 7. Oktober geschlossen.

Die Ankündigung erfolgte kurz nach einem Telefonat zwischen US-Präsident Joe Biden und Netanyahu. In dem Gespräch hatte Biden den israelischen Regierungschef nach Angaben des Weißen Hauses aufgefordert, eine Reihe „spezifischer, konkreter und messbarer Schritte“ zu unternehmen, um das Leid für die Menschen im Gazastreifen zu verringern und den Schutz von Helfern zu erhöhen. Die künftige US-Politik in Bezug auf den Gazastreifen hänge davon ab, wie Israel diese Maßnahmen umsetze, warnte Biden.

Der Gaza-Krieg begann vor fast sechs Monaten mit dem verheerenden Massaker, das die islamistische Hamas und andere extremistische Gruppen am 7. Oktober im israelischen Grenzgebiet verübten. Israel reagierte zunächst mit massiven Luftangriffen, dann auch mit einer Bodenoffensive in den meisten Teilen des Gazastreifens.

Nach israelischen Angaben von vergangener Woche haben extremistische Palästinenser seit dem 7. Oktober, als die Hamas und andere militante Palästinenser-Organisationen ein Massaker in Israel mit rund 1.200 Toten verübt hatten, mehr als 15.000 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Seit dem Großangriff geht die israelische Armee mit einer Großoffensive im Gazastreifen gegen die Terroristen vor. Mehr als 130 Geiseln von ursprünglich 250 in den Gazastreifen verschleppten Menschen sollen sich noch in der Gewalt der Hamas und anderer Gruppen befinden. Knapp 100 Entführte dürften nach israelischen Schätzungen noch am Leben sein.

Im Zuge der israelischen Gegenoffensive wurden große Teile des Küstengebietes zerstört. Mehr als die Hälfte der rund 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens leben im Raum Rafah im Süden in Zelten und haben kaum Nahrung oder medizinische Grundversorgung. Die Hilfsorganisation Handicap International warnte am Freitag in einer Aussendung vor der mangelnden Versorgung für Verwundete: „Es besteht kein Zweifel daran, dass viele Verletzte eine dauerhafte Behinderung davontragen werden.“

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