Leitl: “ÖVP muss wieder echte Europa-Partei werden”

Christoph Leitl im Interview über die EU-Wahl 2024, diverse Handelsabkommen, Eskalationsdenken und die Warnungen vor einem 3. Weltkrieg

WK-WIRTSCHAFTSPARLAMENT TAGT ZUR BERGABE DER PRSIDENTENFU

Er ist Unternehmer, Politiker und glühender Europäer. Im VOLKSBLATT-Interview richtet Christoph Leitl einen flammenden Apell — auch an die ÖVP.

In nicht einmal einem Jahr steht die Europa-Wahl auf dem Programm: Was kommt Ihnen da in den Sinn?

Europa ist mein Thema. Europa wird durch die Wahl 2024 in diesem Jahr viel stärker in den Fokus rücken und da möchte ich, dass auch die Partei, der ich angehöre, das sehr ernst nimmt und wieder zu einer echten Europa-Partei wird.

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Wie macht sich das bemerkbar?

Wir haben die Rumänen (durch das Veto zum Schengenbeitritt/Anm.) von Freunden zu Gegnern gemacht. Wir hatten auf europäischer Ebene schon Zusagen erhalten — auf deren Einhaltung hätten wir natürlich bestehen können und sollen, das wäre legitim gewesen. Aber ein Veto einzulegen gemeinsam mit Viktor Orban (Ungarn) und Jaroslaw Kaczynski (Polen) ist nicht in Ordnung,

Das ist aber nicht der einzige Punkt, oder?

Wir stoßen Brasilien und weite Teile Lateinamerikas mit unserer Haltung zu Mercosur vor den Kopf. Verängstigen dabei unsere Landwirte, die glauben, es geht um die Existenz. Das ist aber nicht der Fall, denn wir exportieren mehr landwirtschaftliche Güter nach Lateinamerika als umgekehrt.

„Wir verpassen durch Sturheit viele Chancen“

So wie es auch mit Kanada der Fall ist?

Genau. Was haben wir uns bei Ceta (Handelsabkommen mit Kanada/Anm.) für Sorgen gemacht? Jetzt haben wir es fünf Jahre und dabei konnten wir unseren Export um 30 Prozent steigern, Kanada seine Exporte zu uns jedoch nur um acht Prozent. Wir verpassen unheimlich viele Chancen durch unsere Sturheit.

Auch das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip sehen Sie kritisch?

Das blockiert den Fortschritt der Europäischen Union, schwächt uns auf der internationalen Ebene und bringt nur Uneinigkeit nach innen. Daher meine Aufforderung: Überlassen wir das Thema nicht den Neos, das sind die Einzigen, die sich da derzeit profilieren.

Sie bleiben aber ein glühender Europäer?

Ja, ich bin immer für Europa. Europa ist bei aller Unvollständigkeit, die es mit sich bringt, etwa bei der Bürokratie und bei einzelnen Regelungen — unsere Zukunftsversicherung. Nur sieben Prozent der Weltbevölkerung sind Europäer, das muss uns klar sein. Die Asiaten sind hungrig und kämpfen, die Amerikaner sind dynamisch und optimistisch und wir Europäer lassen gerade die Flügel hängen.

Was ist Ihre Motivation?

Ich will meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten (als Präsident der Europäischen Bewegung Österreich/Anm.), mit der Gründung des European Business Circles und der europäischen Jugend-Begegung, dass in den jungen Menschen in Workshops und persönlichen Begegnungen so etwas wie ein europäischer Geist wiederkommt. Dass Europa nicht eine reine Kosten-/Nutzenrechnung ist. Denn wenn das Herz nicht mitspielt, wird man nie die Menschen erreichen.

Wie kann man die Herzen der Menschen erreichen?

All die Austausche, die es auf Gemeinde- und Vereinsebene gibt, die Menschen zusammenbringen, wie etwa unsere Euregio von OÖ, Bayern und Böhmen, sind sehr wertvolle Impulse, die sollen nicht von der Bundespolitik konterkariert werden. Das ist eine klare Aufforderung an die eigene Adresse und ich hoffe, dass sie gehört und umgesetzt wird. Die Idee von Caroline Edtstadler, ähnlich zur Wien-Woche auch Brüssel-Tage zu etablieren, finde ich jedenfalls sehr gut.

Was würden Sie sich für Entscheidungen wünschen?

Grünes Licht für Rumänien (bei Schengen), ja zu Mercosur mit Verbesserungen. Denn wer den Dialog verweigert, der kann auch nicht verbessern. Wenn man einen Konflikt hat, muss darüber reden und nach Lösungen suchen und dann kann man immer noch entscheiden, ob die Lösung passt oder nicht. Aber nicht zu verhandeln ist nicht nachvollziehbar.

„Alle großen Dinge können nur global gelöst werden“

Worauf führen Sie diese Entwicklungen zurück?

Ich sage es ganz offen: Wir wollen den Blauen das Wasser abgraben, in Wirklichkeit reißen wir aber alle Dämme zu den Blauen ein. Denn man geht zum Schmid nicht zum Schmidl. Ich bin immer für Weltoffenheit, für eine globale Sicht der Dinge, weil alle großen Dringe nur noch global gelöst werden können.

Zum Beispiel?

Europa sorgt für nicht einmal zehn Prozent des CO2-Ausstoßes. Auch die Flüchtlingsströme oder das Finanzspekulationswesen sind globale Probleme. Und da kann nur ein starkes und einiges Europa mitwirken, wenn es auch seine Wert- und Sachvorstellungen einbringt. Daher leide ich darunter, dass wir all das ignorieren und nicht in der Tradition, die Alois Mock entspricht, die Dinge aufnehmen und etwas bewegen.

Sie machen sich Sorgen?

Ja, ernsthafte. Es ist wichtig, dass wir als ÖVP wieder Nummer eins werden und damit auch die EVP stärken. Denn generell sehe ich ein Absinken der Mitte-Parteien und einen Zugewinn an den extremen Rändern — links wie rechts. Das macht die Steuerung der Europäischen Union schwierig. Daher müssen wir klare Flagge, klare Positionen zeigen. Ja, wir wollen verschiedene Dinge ändern, ja, es gibt Missstände, ja, wir müssen kritisch sein. Aber gute Freunde dürfen nie destruktiv sein.

Was wäre Ihre Strategie?

Wenn wir etwas bewegen wollen, dann müssen wir uns Partner und Verbündete suchen und dürfen uns nicht ins Schmollwinkerl zurückziehen. Das gilt natürlich nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Opposition, mit Ausnahme der Neos, die nicht unkritisch, aber konstruktiv sind.

„Leide darunter, dass nur in Eskalation gedacht wird“

Wird der Ukraine-Krieg bis 2024 beendet sein? Wie sehen Sie die Entwicklungen?

Ich leide darunter, dass jeder nur noch in Eskalation denkt und niemand in Lösungen. Es gibt keine perfekten Lösungen, aber Österreich könnte aus seiner neutralen Position eines machen: Ein Dialogförderer sein. Wir können kein Problemlöser und auch kein Vermittler sein, denn wir sind Teil der EU und die meisten Länder der EU sind Mitglieder der Nato. Die direkt Betroffenen müssen sich aber an einen Tisch setzen. Wir dürfen, bei aller Klarheit, wer der Aggressor ist, bei aller Klarheit, dass fundamentale europäische Werte verletzt werden, nicht vergessen, dass Lösungen immer Gespräche bedingen. Auch Papst Franziskus sagt: ‘Krieg ist nie eine Lösung, Dialog unverzichtbar’.

„Pazifist ist fast ein Schimpfwort geworden“

Wohin führt dieses Eskalations-Denken noch?

UNO-Generalsekretär, warnt offen vor einem 3. Weltkrieg. Warum werden solche Stimmen ignoriert? Ich kann das nicht nachvollziehen! Pazifist, also das Denken in Friedenskategorien, ist fast ein Schimpfwort geworden. Ich bekenne mich aber dazu. Ich habe vor dem Krieg versucht, über Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft Fäden zu knüpfen, die einander näher bringen. Mit dem Krieg sind viele dieser Fäden zerschnitten worden, aber eines werden wir nicht ändern können. Die Geografie der Nachbarschaft, Russland ist ein Teil von Europa.

Bräuchte Europa aber nicht mehr Eigenständigkeit?

Ja. Die Amerikaner sind weit weg und werden immer ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Die Chinesen haben sowieso eigene Interessen. Warum hat Europa keine eigenen Interessen? Europa sollte nicht Anhängsel sein und das, was die USA vorgeben, nachplappern, sondern Eigenständigkeit zeigen, denn grundsätzlich sind wir ein geachteter Gesprächspartner.

Wird man, wenn man sich Amerika-kritisch äußert, nicht sofort als Putin-Versteher bezeichnet?

So ist es, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Ich habe den Krieg vom ersten Tag an massiv verurteilt, aber ich will nicht nach hinten, sondern nach vorne schauen. Wo gibt es eine mögliche Lösung, denn jeder Tag Krieg bringt unzählige Tote, Verwundete und Verkrüppelte.

„Nehme Warnung vor 3. Weltkrieg ernst“

Was halten Sie von den Aktivitäten der Türkei oder Chinas?

Es ist traurig, dass die Türkei oder China Friedensvermittler in einem europäischen Krieg sein sollen. Da sehe ich eine Chance für ein neutrales Land wie Österreich als Begegnungsort. Das haben wir doch immer so gemacht, auch in den härtesten Zeiten des Kalten Kriegs.

Besteht die Gefahr, dass Putin so weit in die Enge getrieben wird, dass er etwas Katastrophales inszeniert?

Das traue ich mir nicht einzuschätzen, aber wenn der UNO-Generalsekretär mit deutlichen Worten vor einem 3. Weltkrieg warnt, dann wird er seine Gründe haben. Und diese Gründe nehme ich ernst.

Interview: Roland Korntner

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