Russische Bodenoffensive in der Region Charkiw gestartet

Zerstörungen in der Ukraine enorm © APA/AFP/ANATOLII STEPANOV

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat nach Beginn einer massiven russischen Bodenoffensive von einem „heftigen Kampf“ in der ostukrainischen Region Charkiw gesprochen. „Russland hat eine neue Welle von Gegenoffensivaktionen gestartet“, sagte Selenskyj am Freitag bei einer Pressekonferenz. „Die Ukraine begegnete ihnen dort mit unseren Truppen, Brigaden und Artillerie (…) Jetzt ist in dieser Richtung ein heftiger Kampf im Gange.“

Nach der Vereidigung von Kremlchef Wladimir Putin für eine neue Amtszeit und dem pompös gefeierten Tag des Sieges in Moskau begannen am Freitag russische Truppen einen Angriff auf die ukrainische Stadt Wowtschansk. Sie liegt etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw an der Grenze zu Russland.

Lesen Sie auch

Ab 5.00 Uhr Ortszeit (4.00 Uhr MESZ) seien feindliche Bodentruppen im Schutz von Panzerfahrzeugen vorgerückt, um die Verteidigungslinien zu durchbrechen, teilte das ukrainische Verteidigungsministerium in Kiew mit. Bisher seien die Angriffe abgewehrt worden, die Kämpfe dauerten jedoch in unterschiedlicher Intensität an. Unabhängig waren diese Angaben nicht zu überprüfen.

Nicht genannte Quellen im ukrainischen Militär sagten dem Portal Ukraijinska Prawda, vier Grenzdörfer Striletsche, Krasne, Pylne und Boryssiwka seien von russischen Truppen erobert worden. Sie liegen noch dichter an Charkiw, das seit Monaten heftigen russischen Luftangriffen ausgesetzt ist.

Die USA bereiten unterdessen eine Lieferung mit Rüstungsgütern an die Ukraine im Wert von 400 Millionen Dollar vor. Darin inbegriffen seien Artillerie, Luftabwehr, panzerbrechende Munition, gepanzerte Fahrzeuge und Kleinwaffen, die sofort auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden könnten, sagt ein Regierungsmitarbeiter. Die US-Lieferungen sind wieder möglich geworden, nachdem der Kongress seine monatelange Blockade der militärischen Hilfen für die Ukraine aufgehoben hat. Die Ukraine rechnet einem Insider zufolge im Juni oder Juli mit der Lieferung von ersten F-16-Kampfjets. Bisher haben Dänemark, die Niederlande, Norwegen und Belgien die Lieferung von F-16 zugesagt.

Video
Ich möchte eingebundene Social Media Inhalte sehen. Hierbei werden personenbezogene Daten (IP-Adresse o.ä.) übertragen. Diese Einstellung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft in der Datenschutzerklärung oder unter dem Menüpunkt Cookies geändert werden.

Über eine mögliche russische Offensive bei Charkiw wird seit Wochen spekuliert. Es gibt Berichte, dass die russischen Truppen dort mehrere Zehntausend Mann zusammengezogen haben. Für den Ernst der Lage spricht, dass das Verteidigungsministerium in Kiew sich dazu äußerte, nicht wie sonst der Generalstab. „Zur Verstärkung der Verteidigung an diesem Frontabschnitt werden Reserven herangeführt“, teilte das Ministerium mit.

Schon am Tag zuvor sei der Frontabschnitt bei Wowtschansk von russischen Kampfflugzeugen aus der Luft mit Gleitbomben bombardiert worden. Über Nacht habe die russische Artillerie die ukrainischen Linien beschossen zur Vorbereitung des Angriffs.

„Die Streitkräfte der Ukraine halten ihre Stellungen: Es ist kein Meter Boden verloren gegangen“, schrieb der Gouverneur des Gebietes Charkiw, Ihor Synjehubow, auf Telegram. Eine Gefahr für die Großstadt Charkiw sehe er einstweilen nicht. Der russische Militärblogger Rybar schrieb zu den Gefechten in der Region: Es gehe zunächst darum, die Kampfzone auszuweiten und im Gefecht die feindlichen Stellungen aufzuklären.

Für die ukrainische Armee bedeutet die Offensive ein weiteres Problem an der etwa 1000 Kilometer langen Front im Osten und Süden, nachdem sie zuletzt schon bei Bachmut und Awdijiwka zurückgedrängt wurde. Den Verteidigern fehlen immer noch Waffen und Munition, nachdem innenpolitischer Streit in den USA über Monate einen regelmäßigen Nachschub verhinderte.

Mittlerweile ist ein milliardenschweres Rüstungspaket beschlossen. Doch Russland versuche die Zeit bis zum Eintreffen dieser Waffen an der Front auszunutzen, sagte der Kommandant des ukrainischen Heeres, Olexander Pawljuk, der britischen Zeitschrift „Economist“. „Russland weiß, dass sich die Lage gegen sie wenden könnte, wenn wir in ein bis zwei Monaten genügend Waffen bekommen.“

Die russische Seite des Grenzgebietes ist die einzige Region, die bisher vom Krieg erfasst worden ist. Die ukrainische Armee beschießt die Großstadt Belgorod und ihr Umland mit Drohnen und Artillerie. Sie will damit den russischen Nachschub stören und den Beschuss auf Charkiw unterbinden. Die Kämpfe auf russischem Boden waren für Moskau gerade während der Präsidentenwahl Mitte März ein Problem. Putin drohte damals an, ukrainisches Gebiet als Sicherheitszone zu erobern, um Belgorod und andere Städte in Grenznähe zu schützen. Die Ukraine wehrt seit mehr als zwei Jahren eine großangelegte russische Invasion ab.

Die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze eröffnete in der Ukraine die größte Werkstatt des von Russland angegriffenen Landes zur Herstellung von Prothesen für Kriegsverletzte. Der Bau in der westukrainischen Stadt Lwiw wurde von Deutschland mit 1,8 Millionen Euro gefördert und gehört zu einem Zentrum für Orthopädie, in dem auch Fachkräfte ausgebildet werden und das an ein Rehabilitations-Zentrum angebunden ist. „Das ist ein Ort der Hoffnung, das ist ein Ort der Stärke“, sagte Schulze am Freitag bei der Eröffnungszeremonie. Viel zu viele Menschen hätten durch Minen, durch Granaten oder durch eingestürzte Gebäude Beine oder Arme verloren oder sogar ihr Leben. „Aber was man hier sehen kann ist, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer sich davon nicht entmutigen lassen.“

Deutschland hat nicht nur den Bau der Werkstatt mit 1,8 Millionen Euro unterstützt, sondern finanziert auch die benötigten Maschinen mit 600.000 Euro. Für die Renovierung des Reha-Zentrums mit dem englischen Namen Unbroken (ungebrochen) werden weitere 2,2 Millionen Euro aufgebracht. In der neuen Werkstatt können rund 1.200 orthopädische Hilfsmittel pro Jahr gefertigt werden.

Das könnte Sie auch interessieren