Weit über 100 Tote nach Anschlag bei Moskau – Festnahmen

Völlig zerstörte Konzerthalle am Tag nach dem Anschlag © APA/AFP/HANDOUT

Nach dem Anschlag auf Besucher einer Konzerthalle bei Moskau ist die Zahl der Todesopfer deutlich gestiegen. Die staatliche Ermittlungskomitee sprach am Samstag von mindestens 133 Toten, im Staatsfernsehen war zuvor von 143 Toten die Rede gewesen. Der Kreml vermeldete die Festnahme von elf Personen im Zusammenhang mit dem tödlichsten Anschlag in Russland seit 20 Jahren. Die vier Hauptverdächtigen sind am Samstagabend zum Verhör in die russische Hauptstadt gebracht worden.

Wie die Staatsagentur TASS weiter berichtete, waren die vier Männer in einer streng abgesicherten Wagenkolonne aus der Region Brjansk im Süden des Landes, wo sie festgenommen worden waren, zum sogenannten Ermittlungsausschuss gefahren worden. In den kommenden Tagen solle vor Gericht ein Antrag auf Haftbefehl gestellt werden. Ihnen allen drohe eine lebenslange Haftstrafe, hieß es weiter.

Bei den vier mutmaßlichen Attentätern handelt es sich nicht um Russen. Um welche Staatsbürgerschaften es sich handelte, teilte das russische Innenministerium jedoch nicht mit. „Heute haben einige Telegram-Kanäle und soziale Netzwerke Behauptungen verbreitet, dass vier Verdächtige des Terroranschlags auf die Crocus City Hall vom 22. März, die sich in einem Renault Logan davongemacht haben und anschließend in der Region Brjansk festgenommen wurden, russische Staatsbürger sind. Diese Informationen sind weit von der Realität entfernt. Alle von ihnen sind ausländische Staatsbürger“, schrieb die Sprecherin des Innenministeriums Irina Volk auf ihrem Telegramm-Kanal.

Die vier festgenommenen mutmaßlichen Attentäter waren nach Angaben des Inlandsgeheimdienstes FSB auf dem Weg zur ukrainischen Grenze, als sie gefasst worden seien. Auf der ukrainischen Seite hätten sie über Kontakte verfügt. Belege für eine Verbindung in die Ukraine, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren Krieg führt, wurden jedoch zunächst nicht präsentiert.

Die radikale Miliz Islamischer Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich und veröffentlichte ein Foto, das die vier mutmaßlichen Attentäter zeigen soll. Der Anschlag stehe im Zusammenhang mit dem „tobenden Krieg“ zwischen dem Islamischen Staat und den Ländern, die den Islam bekämpften, teilte die Nachrichtenagentur Amak, das Sprachrohr der IS-Miliz, auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. „Bis zu 300 Christen“ seien getötet worden.

Die US-Geheimdienste stuften Regierungskreisen zufolge die Bekennerschreiben als echt ein. Auch Terrorexperten wie etwa Peter Neumann vom King’s College in London erachten das Bekennerschreiben als authentisch und sehen den IS „Provinz Khorasan“ (ISPK bzw. engl. ISKP) hinter der Tat.

Der russische Präsident Wladimir Putin nannte den Angriff eine „barbarische terroristische Tat“ und sagte in einer Fernsehansprache Samstag, alle Angreifer seien festgenommen worden und hätten versucht, in die Ukraine zu fliehen. Vorläufige Informationen deuteten darauf, dass einige Personen auf ukrainischer Seite bereit gewesen seien, sie von Russland aus über die Grenze zu lassen, sagte Putin. Auch Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa verurteilte den Anschlag als terroristischen Angriff. „Wir wissen jetzt, in welchem Land diese verdammten Bastarde sich vor ihrer Verfolgung verstecken wollten: in der Ukraine“, erklärte sie über den Kurznachrichtendienst Telegram.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Putin vor, die Schuld auf die Ukraine abwälzen zu wollen. In seiner täglichen Videoansprache sagte Selenskyj am Samstagabend, es sei „absolut vorhersehbar“ gewesen, dass Putin 24 Stunden lang geschwiegen habe, bevor er den Terroranschlag mit der Ukraine in Verbindung gebracht habe.

Auch der ukrainische Militärgeheimdienst HUR wies die Behauptungen Moskaus deutlich zurück. Putins Anschuldigung sei eine „absolut falsche und absurde Aussage“, sagte HUR-Vertreter Andrij Jussow am Samstag laut ukrainischen Medien. „Seit mehr als zwei Jahren dauert die Vollinvasion an, die Grenzgebiete sind voller feindlicher Truppen, Spezialagenten, Vertretern von Geheimdiensten und Sicherheitskräften. Die Grenzlinie ist vermint, sie wird mit allen Mitteln überwacht – darunter Luftaufklärung von beiden Seiten.“ Der Ukrainer fügte hinzu: „Natürlich kann diese Version keiner Kritik standhalten. Das versteht jeder auf der Welt, außer vielleicht der zombifizierten russischen Bevölkerung.“ Jussow beschuldigte den Kreml zudem, die Tragödie in Moskau nutzen zu wollen, um Repressionen im eigenen Land weiter zu verschärfen.

Putin sprach vom „internationalen Terrorismus“, der bekämpft werden müsse. Er sei bereit, mit jedem Staat zusammenzuarbeiten, der diesen Feind besiegen wolle. „Alle Täter, Organisatoren und diejenigen, die dieses Verbrechen angeordnet haben, werden gerecht und unausweichlich bestraft werden. Wer auch immer sie sind, wer auch immer sie anführt“, sagte der russische Staatschef. Der Kreml erklärte, Putin habe Gespräche mit den Staatschefs von Belarus, Usbekistan und Kasachstan geführt, in denen alle Seiten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus bekräftigt hätten.

Am Freitagabend hatten Täter in Tarnkleidung mit automatischen Waffen das Feuer auf Besucher der Crocus City Hall am Rande von Moskau eröffnet, wie das für Schwerverbrechen zuständige Ermittlungskomitee mitteilte. Einige Opfer seien durch Schüsse umgekommen, andere durch einen Großbrand in dem Gebäudekomplex. Medienberichten zufolge legten die Angreifer das Feuer mit Benzinkanistern, die sie in Rucksäcken transportiert hätten. Menschen flohen in Panik. Laut einem Bericht des Nachrichtenportals Basa, das über gute Kontakte zu den Strafverfolgungsbehörden verfügt, wurden allein 28 Leichen in einem Toiletten-Raum entdeckt und 14 auf einer Treppe. „Viele Mütter wurden mit ihren Kindern in den Armen gefunden.“

In Moskau bildeten sich am Samstagmorgen lange Schlangen von Menschen, die Blut spenden wollten. Mehr als 120 Menschen wurden bei dem Angriff nach Angaben der Gesundheitsbehörden verletzt. Beim Wegräumen der Trümmer in der Konzerthalle des Zentrums hätten Einsatzkräfte weitere Leichen gefunden, teilte das Ermittlungskomitee am Samstag auf Telegram mit. Die Suche nach möglichen weiteren Opfern dauere an, hieß es.

Nach Angaben des russischen Parlamentsabgeordneten Alexander Chinschtein flohen die Angreifer in einem Renault, der von der Polizei in der Region Brjansk etwa 340 Kilometer südwestlich von Moskau Freitagabend entdeckt wurde. Nach einer Verfolgungsjagd seien zwei Personen festgenommen worden. Die anderen beiden seien zu Fuß in einen Wald geflohen. Sie wurden aber offenbar später auch festgenommen. Chinschtein zufolge wurden in dem Auto eine Pistole, ein Waffenmagazin, und tadschikische Pässe gefunden. Tadschikistan ist ein überwiegend von Muslimen bewohnter Staat in Zentralasien, der einst zur Sowjetunion gehörte.

In Washington sagte ein US-Regierungsvertreter, die USA hätten Russland in den vergangenen Wochen vor einem Anschlag in Moskau gewarnt. Details nannte er nicht, bestätigte aber, dass sich die IS-Miliz zu dem Angriff bekannt habe. Vor zwei Wochen hatte der FSB nach eigenen Angaben einen Anschlag auf eine Moskauer Synagoge durch einen afghanischen IS-Ableger verhindert. Dieser habe sich auf Russland in den vergangenen zwei Jahren fixiert und oft auch Putin kritisiert, sagte der Terrorismus-Experte Colin Clarke von der Denkfabrik Soufan Center.

Der IS war bekanntgeworden, als er in weiten Teilen des Irak und Syriens ein Kalifat ausgerufen hatte. Er hat auch in anderen Ländern, darunter auch in Europa, zahlreiche Anschläge für sich reklamiert. Russland hatte sich 2015 in den syrischen Bürgerkrieg eingeschaltet, um Präsident Bashar al-Assad gegen die Opposition und den IS zu unterstützen.

Beim ISPK handelt es sich um einen Ableger des IS in Afghanistan und anderen Staaten Zentralasiens. Kurz vor Weihnachten wurde in Österreich ein Tadschike und seine Ehefrau festgenommen, weil sie in Anschlagspläne gegen den Stephansdom eingebunden gewesen sein sollen. Ein in Deutschland lebender Landsmann, der die beiden mehrmals besucht hatte, steht im Verdacht, ähnliche Pläne mit dem Kölner Dom als Ziel gehabt zu haben.

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