Wer frei von Mitverantwortung ist, werfe den ersten Stein auf Israel…

Das blutige Gaza-Drama folgt Israels Erkenntnis, sich nur auf sich selbst verlassen zu können

In den Ruinen von Gaza manifestiert sich auch die Mitverantwortung einer Welt, die islamischen Extremismus verharmlost und unterschätzt.
In den Ruinen von Gaza manifestiert sich auch die Mitverantwortung einer Welt, die islamischen Extremismus verharmlost und unterschätzt. © AFP

Israel steht am Pranger, weil es den Terror auf eine selbst seinen Freunden nicht mehr angemessen erscheinende Weise bekämpft. Die Kritiker seien jedoch an ihre Mitverantwortung für die Gaza-Eskalation erinnert.

Wer weiß schon, ob die im sicheren Katar residierenden Hamas-Chefs wirklich so strenggläubige Muslime und daher Alkoholverächter sind, aber zumindest sinnbildlich lässt sich sagen: In ihren Luxusdomozilen in Doha knallen die Sektkorken. Denn aus Sicht der islamistischen Terrorpaten hat die Operation „Al-Aqsa-Flut“ ihre Ziele erreicht. Vielleicht knallt sogar Krimsekt, den Wladimir Putin geschickt hat. Schließlich erledigt die Hamas nebenbei auch sein Geschäft der Spaltung des Westens.

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Kurzes Entsetzen

Nach dem grauenvollen Terrorangriff am 7. Oktober währte das Entsetzen über die palästinensische Mörderbande und das Mitgefühl mit den israelischen Opfern nur kurz. Österreich blieb sogar vergleichsweise lange standhaft bei seiner der historischen Verantwortung geschuldeten Position, Israel ein uneingeschränktes Selbstverteidigungsrecht zuzugestehen.

So sprach sich Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) erst Ende Februar in Tel Aviv bei einer Unterredung mit dem israelischen Amtskollegen Israel Katz für eine Waffenruhe aus, was eine Änderung der österreichischen Haltung bedeutete. Noch im Dezember hatte Österreich als einer von nur zehn Staaten (zweites EU-Land war Tschechien) in der UN-Generalversammlung gegen eine Resolution votiert, die einen Waffenstillstand forderte.

Frankreichs Präsident Emanuel Macron, der im Oktober noch die internationale Anti-IS-Koalition „gnadenlos“ gegen die Hamas ins Feld schicken wollte, hatte schon früher Israels Gegenoffensive in Gaza mit scharfen Worten kritisiert.

Auch die USA fallen um

Der Verzicht der USA auf ein Veto gegen eine Waffenstillstandsresolution im UN-Sicherheitsrat markierte Ende März eine Zäsur im israelisch-amerikanischen Verhältnis. Galt früher der Grundsatz, kein Präsidentschaftskandidat könnte sich Zweifel an seiner Treue zu Israel leisten, beugt sich Joe Biden nun mit Blick auf die Wahl im November der zunehmend auch ihm selbst geltenden Kritik am harten Vorgehen Israels im Gazastreifen.

Doppelte Niederlage

Insofern bedeutet der 7. Oktober eine doppelte Niederlage der, was nie vergessen werden sollte, einzigen Demokratie in dieser Region: Zum einen unterspülte die „Al-Aqsa-Flut“ Israels Mythos der Unverwundbarkeit, zum anderen hat die Hamas Oberwasser in der Propagandaschlacht: Das anfängliche Entsetzen Europas und der USA über das beispiellose Hamas-Massaker wich in den vergangenen Monaten immer mehr einer zunehmend äquidistanten bis offen Israel-kritischen, propalästinensischen Haltung. Das Verständnis für Israel entwickelt sich umgekehrt proportional zur steigenden Zahl ziviler Opfer in Gaza.

Altes Testament oder Bergpredigt?

Israel wird zum Objekt zynischer Debatten über die Verhältnismäßigkeit der Gegenreaktion. Aber was ist verhältnismäßig? Das alttestamentarische Aug-um-Aug-Zahn-um-Zahn-Prinzip? Wären also genauso viele palästinensische Opfer wie israelische am 7. Oktober tolerabel? Oder dürfen auch die vielen Opfer früherer Terroranschläge mitgerechnet werden? Viele halten dieses archaische Prinzip ohnehin für überholt und erwarten von Israel ein Verhalten gemäß der Bergpredigt: „Widersteht nicht dem, der böse ist, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so wende ihm auch die andere zu“ (Matthäus 5:39).

Demokraten unter Druck

Letzterer Ansatz findet unter dem Eindruck der schrecklichen — nicht selten von palästinensischen Propagandisten kreierten — Bilder wachsende Zustimmung. Man sieht nur noch die leidenden Frauen und Kinder in den Ruinen von Gaza, während die Erinnerung an die vor sechs Monaten in Südisrael von Hamas-Schergen gemarterten Frauen und Kinder allmählich verblasst. Insofern ist es nachvollziehbar, dass der Druck auf Israel wächst, weil demokratische Regierungen ihrerseits wachsenden Druck einer von den Horrorszenen erschütterten Zivilgesellschaft spüren. Die Hamas muss dagegen nicht befürchten, mit ihrem Tun ähnliche Effekte bei ihren Financiers auszulösen, da im Iran und in Katar kein demokratisches Korrektiv wirken kann.

Doch wer jetzt mit dem Finger auf Israel zeigt und — nicht die eigene Wange hinhalten müssend — die Bergpredigt als Handlungsanleitung empfiehlt, möge auch seinen Beitrag zur Eskalation prüfen beziehungsweise sich dessen überhaupt erst einmal bewusst werden. Denn Israels in der Tat brutales Vorgehen ist auch eine Konsequenz aus der Einsicht, auf sich allein gestellt zu sein, wenn es hart auf hart geht, und, dass Kompromissbereitschaft nicht wirklich belohnt wird. 1982 hatte sich Israel vollständig von der Sinai-Halbinsel zurückgezogen, 2005 aus dem Gazastreifen, was jeweils auch die zwangsweise und daher alles andere als populäre Absiedelung von jüdischen Zivilisten bedeutete. Der „Dank“ war die Umformung der „judenfrei“ gemachten Zone in ein Aufmarsch- beziehungsweise Rückzugsgebiet für islamistische Araber, die eben keinen Kompromiss mit Israel, sondern nur dessen Auslöschung wollen. Nachzulesen übrigens in der Hamas-Charta.

Nährboden für Islamisten

Im Umgang mit diesen Extremisten begründet sich auch die Mitverantwortung des Westens — der USA und insbesondere Europas — für die tragische Entwicklung. Eine nicht selten mit einer Prise Antisemitismus gewürzte Mischung aus romantischer Sympathie für Befreiungsbewegungen aller Art und moralisierendem Wohlwollen für das Streben nach palästinensischer Eigenstaatlichkeit bildet den Nährboden für zahllose mehr oder weniger gut vernetzte Gruppierungen, welche die öffentliche Meinung und damit das politische Handeln im Sinne der palästinensischen Extremisten beeinflussen.

Islamismus am Dorf

Dass unmittelbar nach dem 7. Oktober in ganz Österreich nahezu täglich auf Demonstrationen das von der Hamas verübte Gemetzel ausgeblendet und zugleich mehr oder weniger verklausuliert die Vernichtung Israels propagiert wurde, kam ja nicht von ungefähr. Seit Jahrzehnten wird die Etablierung von islamistischen bzw. linksextremen Strukturen geduldet oder ignoriert. Die antisemitische BDS-Bewegung (BDS =

Boycott, Divestment and Sanctions gegen Israel bis zu dessen Auslöschung) konnte sich ebenso etablieren wie muslimbruderschaftliche Vereine, die ihren Judenhass teils offen ausleben, teils mit freundlicher Fassade camouflieren. Die Zuwanderung aus dem arabischen bzw. türkischen Raum verstärkte diese von Politik und Medien unterbelichtete Tendenz.

Zweierlei Maß

Sollte am 20. April (Hitlers Geburtstag, Anm.) wieder ein rechter Spinner auf seinem Facebook-Profil ein Foto von Eiernockerl mit grünem Salat (Hitlers Leibspeise, Anm.) posten, wird er neben geharnischtem Protest einer einschlägig, aber auch einseitig konditionierten Empörungsgesellschaft die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, wie in entsprechender Judikatur ersichtlich ist. Übrigens völlig zu Recht. Aber: Die seit Jahren in sozialen Medien abgesonderten antisemitischen Parolen eines in einem oberösterreichischen Dorf in der Jugendarbeit tätigen Islamisten halten dagegen weder Justiz noch Politik für verfolgenswürdig. Auch die bei Linz betriebene Koranschule eines Ablegers der türkischen Ismailaga-Sekte, welche die Juden in langen Abhandlungen als ein „von Allah verfluchtes Volk“ darstellt und dabei kein antisemitisches Stereotyp auslässt, wird von völlig desinteressierten Lokalpolitikern als unauffällig eingestuft.

Solche Beispiele finden sich in vielen europäischen Ländern, da der politische Islam kein regionales Phänomen, sondern eine globale Plage darstellt.

KZ-Besuch genügt nicht

Ja, die Landeshauptleutekonferenz hat gerade mit Blick auf den zunehmenden Antisemitismus gefordert, Jugendlichen den Besuch von KZ-Gedenkstätten zu verordnen. Aber: Wird dies mit einem didaktischen Konzept verbunden sein, das Besuchern mit muslimischem Hintergrund auch die Augen öffnet für den Holocaust-Kollaborateur und Jerusalemer Großmufti Mohammed Amin al-Husseini oder den gerade vorige Woche anlässlich seines 27. Todestages auch in Teilen der austro-türkischen Community gewürdigten Graue-Wölfe-Gründer Alparslan Türkes, einem ausgewiesenen Hitler-Bewunderer? Oder soll der Mauthausen-Besuch auf eine Konfrontation mit dem autochthonen, also den nicht-islamischen Judenhass beschränkt bleiben?

Mitstreiter wider den Antisemitismus und Antiisraelismus könnten sich in der islamischen Welt durchaus finden lassen, aber sicher nicht bei Muslimbrüdern, die sich bestens organisiert blauäugigen, naiven und/oder opportunistischen Politikern als Partner anbiedern. Wer etwa in diesen Tagen mit Milli-Görüs-Vertretern ein fröhliches Fastenbrechen feiert oder gar wie manche SPÖ-Grande öffentlich Freundschaften pflegt, wertet im naiven Spekulieren auf Wähler mit Migrationshintergrund eine Organisation auf, die ihren Gründer, den 2011 verstorbenen Antisemiten Necmettin Erbakan, bis heute als großen Lehrmeister verehrt.

Solange eine Gesellschaft mit wachsendem muslimischem Bevölkerungsanteil nicht auch diese Art von Vergangenheitsbewältigung konsequent angeht, ist es nicht verwunderlich, wenn der als Antizionismus verbrämte oder ganz offen zur Schau getragene Judenhass die Nahost-Politik europäischer Regierungen beeinflussen kann. Dann aber sollte sich auch niemand wundern, wenn ein sich allein gelassen fühlendes Israel sein seit Jahrzehnten ertragenes Terrorproblem ohne Rücksicht auf Verluste mit aller Brutalität ein für allemal zu lösen versucht.

Dieser Versuch, ein politisches Problem militärisch zu lösen, mag unvernünftig, weil im Hinblick auf einen dauerhaften Frieden chancenlos sein. Aber wer frei ist von Mitverantwortung für diese tragische Entwicklung, werfe den ersten Stein.

Analyse: Manfred Maurer

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