Langsam ans Entwöhnen denken

Staatliche Hilfspakete sind in Krisenzeiten alternativlos, bergen aber hohes Suchtpotenzial

Es ist so einfach: Irgendwo tut’s weh, man wirft eine Pulverl ein — und schon ist er weg, der Schmerz. Unschöne Kehrseite der wohltuenden Tablette: „Man kann relativ leicht in eine Abhängigkeit schlittern“, warnt etwa Fernsehdoktor Siegfried Meryn. Denn Medikamentensucht entstehe schleichend und werde oft erst spät entdeckt.

Die Österreicher plagen in letzter Zeit immer öfter Schmerzen. Vor bald drei Jahren fiel dieses Virus bei uns ein und entpuppte sich nicht nur in medizinischer Hinsicht als hartnäckiger Quälgeist. Corona bereitete vielen Menschen auch arge ökonomische Kopfschmerzen.

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Krisenhilfe einst und jetzt

Noch ehe von einer nachhaltigen Entspannung an dieser Front die Rede sein kann, eröffnete Wladimir Putin die nächste. Unter seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine leiden am meisten die Ukrainer und, nicht zu vergessen, das russische Kanonenfutter. Unter den wirtschaftlichen Folgen des Kriegswahnsinns leiden aber auch wir. Der ökonomische Schmerzpegel erreicht sogar Rekordstände. Für viele, denen die Gnade der späten Geburt die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit erspart hat, ist diese Krise gefühlt die schmerzhafteste der Geschichte.

Aber zum Glück gibt es heute Schmerzmittel, die alles erträglicher machen. Leopold Figl konnte 1945 drei Tage vorm Heiligen Abend den darbenden Österreichern in einer Radioansprache als Bundeskanzler nur „Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben“ sagen, heute hat der Staat einiges zu geben.

Pecunia non dolet

Die Krise mag zwar da und dort Lieferengpässe bei Medikamenten bewirkt haben, Mangel an pekuniären Analgetika herrscht aber keiner. Wer auch immer wehklagt, Vater Staat hat eine schmerzstillende Geldspritze für alle.

Laut Finanzministerium hat allein der Bund bisher 46,5 Milliarden Euro an Coronahilfen ausgezahlt oder genehmigt. Das macht pro Kopf etwas mehr als 5200 Euro. Österreich ist damit EU-Spitze, was manche nicht davon abhält, die verabreichte Dosis als zu gering zu erachten.

Ähnlich verhält es sich mit den Maßnahmen zur Linderung rasender Inflationsschmerzen infolge des Ukraine-Krieges. Drei Entlastungspakete im Umfang von insgesamt 32 Milliarden Euro hat die Bundesregierung schon geschnürt.

Einem Ehepaar mit zwei Kindern beschert das heuer und nächstes Jahr ein Einkommensplus von 5385 Euro, rechnet das Finanzministerium vor. Für die Alleinerzieherin mit einem Kind gibt es 2613 Euro.

Geht man davon aus, dass die Gewerkschaften Lohnerhöhungen im Bereich der Inflationsrate durchsetzen werden, können manche unterm Strich vielleicht sogar ein Plus gegenüber Vorkrisenzeiten verbuchen. Das nennt man dann Überförderung.

Vollkaskomentalität

Überschwängliche Dankbarkeit kann die Regierung dennoch kaum erwarten. Sie tut ja nur das für selbstverständlich Gehaltene. Die paternalistisch sozialisierte Vollkaskogesellschaft ließe einen Leopold Figl heute nicht mehr davonkommen mit dem Eingeständnis, nichts geben zu können. Der Staat kann ja inzwischen auch spendabel sein, hat er den Bürgern doch vorher viel genommen und, weil das noch immer nicht reicht, das Schuldenmachen kultiviert.

Teurere Schulden

Solange die Zinsen im Keller waren, erschien es sogar vernünftig, Gratisgeld aufzunehmen. Doch diese Zeiten sind vorbei. Schon 2023 wird sich die aus dem staatlichen Schuldenberg resultierende Zinslast auf 8,7 Milliarden Euro verdoppeln. Angesichts solcher Aussichten mahnt Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) zu Recht, dass das Geld nicht abgeschafft und die Schuldenlast wieder abzubauen sei.

Die Bedingungen für eine Umsetzung dieses Vorhabens sind jedoch denkbar schlecht. Denn so schnell werden die Zeiten nicht besser. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass sie noch schlechter werden.

Zum immer größeren Problem wird dabei der Gewöhnungseffekt: Die Bürger haben — auch durch Zutun einer mit Spendierhosen uniformierten Politik — eine Erwartungshaltung entwickelt. Die Regierenden haben gefälligst für eine umfassende Schmerztherapie zu sorgen, wenn den Bürger der Schuh drückt. Koste es, was es wolle.

Dem an staatliche Wohltaten gewöhnten Bürger muss allmählich wieder klar werden, dass die Gemeinschaft nicht jede krisenbedingte Unannehmlichkeit neutralisieren, sondern nur ärgste Schmerzen lindern kann. Diese Mentalitätsänderung setzt ihrerseits schmerzhafte Einsichten voraus.

„Einen Ausweg aus der Medikamentensucht zu finden ist etwas, das man in den meisten Fällen nicht allein schafft“, weiß Fernsehdoktor Meryn. Zum Glück sind wir nicht allein, sondern neun Millionen, die demnächst gemeinsam den Entzug angehen müssen.

Von Manfred MAURER

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