„Sie blickte hinter die Abgründe bürgerlicher Fassaden“

Gedenken an große österreichische Erzählerin: Zum 50. Todestag & 100. Geburtstag von Marlen Haushofer

Marlen Haushofer, Anfang der 1950er-Jahre
Marlen Haushofer, Anfang der 1950er-Jahre © Sybille Haushofer, Steyr/Wien

„Als sehr bescheidene, zurückgezogene Frau“ habe man Marlene Haushofer in Steyr stets erlebt, erzählt Till Mairhofer, Mitbegründer des dortigen Marlen Haushofer Literaturforums.

Marlene Krisper hat die Schriftstellerin noch persönlich kennenlernen dürfen, sie zwei Mal getroffen. Die pensionierte Deutsch- und Französisch-Professorin vom Gymnasium Werndlpark in Steyr wandte sich 1968 erstmals an Haushofer.

„Eigentlich hatte sie gar nicht mit mir sprechen wollen, weil sie damals schon sehr krank war. Aber sie war ein Mensch, der schwer nein sagen konnte“, erinnert sich Krisper. Die Schriftstellerin habe sie dann auch an ihre Freundin Dora Dunkel verwiesen, die stets die Lesungen für sie übernommen hat: „Haushofer hat gesagt, sie selbst könne kein gesellschaftliches Leben führen und müsse schauen, dass sie ihr Schreibpensum weiterbringe.“

So lange sie konnte, hat Haushofer gearbeitet, bevor sie am 21. März 1970 im Alter von nicht einmal 50 Jahren verstarb. Kinderbücher sind noch entstanden, der Roman „Die Mansarde“ wurde fertiggestellt.

In Frauenstein am 11. April 1920 als Marie Helene Frauendorfer als Försterstochter geboren, habe Haushofer eine freie Kindheit erlebt, sei sehr naturverbunden aufgewachsen, so Krisper. Haushofer verstand sich sehr gut mit ihrem Bruder Rudolf und wurde vom Vater sehr gefördert, der ihr regelmäßig aus der Stadtbücherei in Steyr Bücher bringen ließ: „Sie war schon als Kind mit den Klassikern konfrontiert“, so Krisper.

Video
Ich möchte eingebundene Social Media Inhalte sehen. Hierbei werden personenbezogene Daten (IP-Adresse o.ä.) übertragen. Diese Einstellung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft in der Datenschutzerklärung oder unter dem Menüpunkt Cookies geändert werden.

Die Geschichte ihrer Kindheit hat Haushofer in „Himmel, der nirgendwo endet“ (1986) beschrieben. Überhaupt sei in ihren Werken viel vom Lokalkolorit und dem Lebensgefühl in Molln und Steyr der damaligen Zeit wiederzufinden und vor allem auch viel Autobiografisches, so Mairhofer.

Das Verdrängen und Verschweigen beginnt

Auf die unbeschwerte Kindheit folgte Haushofers Internatszeit bei den Ursulinen in Linz, unter der sie sehr gelitten habe, schwer krank geworden sei und deshalb sogar „ein Jahr aus dem Verkehr gezogen wurde“, so Krisper.

Haushofer wechselte zu den Kreuzschwestern und maturierte schließlich an einem öffentlichen Gymnasium. Im Krieg wurde sie zum Arbeitsdienst in Ostpreußen eingezogen. Danach ging sie nach Wien, um Germanistik und Kunstgeschichte zu studieren. Und wurde von einem Studienfreund schwanger, den sie jedoch nicht heiraten konnte.

Das Leben von Haushofer war von da an geprägt vom Verdrängen und Verschweigen: Ihr erster Sohn Christian wuchs fünf Jahre bei der Mutter einer Freundin in Bayern auf. Haushofer heiratete den Zahnarzt Manfred Haushofer und zog mit ihm 1947 nach Steyr. In einer Zeit, in der der Wiederaufbau das Wichtigste war, in der die Gesellschaft patriarchalisch geprägt war, habe man einem Kind um jeden Preis einen Vater geben müssen, so Krisper.

Ein Weg, den damals viele Frauen gehen mussten „in einer Gesellschaft, die verbunden war mit Falschheit, alles wurde unter den Teppich gekehrt. Was sich hinter bürgerlichen Fassaden an Abgründen aufgetan hat, das hat Haushofer thematisiert und geschrieben.“

Fluchtversuche aus der Enge des Alltags

Haushofer holte ihren Sohn nach Steyr, dass er und sein zwei Jahre später geborener Bruder Manfred nur Halbgeschwister waren, wurde den Kindern verschwiegen. Über der Familie Haushofer habe lange eine „Nebelschicht“ gelegen, so Krisper. Auch als sich Marlen und ihr Mann scheiden ließen, habe niemand davon erfahren, auch die Kinder nicht. Haushofer blieb all die Jahre trotzdem bei ihrem Mann.

Auch von der neuerlichen Heirat acht Jahre später erfuhr niemand. Die dritte „Verschweigung“, wie Krisper es nennt, betraf die schwerde Krankheit Haushofers: Noch als bereits Knochenkrebs diagnostiziert war, sprach sie nur von ihrer„verflixten Verkalkung“, ihr Mann wusste Bescheid, das Paar sprach jedoch nie darüber.

Immer wieder floh Haushofer im Laufe der Jahre aus der Enge ihres bürgerlichen Alltags, dabei ist es stets bei kurzen Ausflügen, bei Versuchen, wegzugehen und als freie Schriftstellerin zu leben, geblieben. So fuhr sie regelmäßig nach Wien und bewegte sich dort im Literaturkreis rund um Hans Weigel, der im Cafe Raimund zusammenkam, und knüpfte Kontakte zu Verlagen. Ihr Bruder, der in Wien lebte, versuchte sie zu überreden, zu bleiben. Krisper: „Aber sie schaffte es nicht, sich zu befreien“.

Auch ihre Kinder hätten gespürt, dass die Mutter ein zweites Leben lebte, sagt Krisper. Dazu kam, dass Haushofer die beiden Buben nie gleich behandelte, den älteren, ledigen benachteiligte. Und beide Buben wurden von ihr ins Internat gesteckt, und das, obwohl sie selbst in so einer Einrichtung eine schlimme Zeit verbracht hatte. Die Last, die eigenen Kinder weggegeben zu haben, schlug sich auch in ihren Werken nieder. Das Schreiben war ihr wohl stets ein Ventil.

Krisper: „Sie hat gesagt, sie müsse schreiben, um zu überleben und sie konnte in ihren Protagonistinnen, in ihren Frauenfiguren das ausleben, was sie in dieser bürgerlichen Provinzenge nicht ausleben konnte.“ Haushofers lebenslanger Zwiespalt zwischen ihrem Wunsch, als freie Schriftstellerin zu leben, und der Realität einer bürgerlichen Existenz als Zahnarztgattin und Mutter machten sie zu einer Ikone der Frauenbewegung.

Erst nach und nach erkannte man ihre Qualitäten

In Steyr habe man nicht von Anfang an ihre ganze literarische Kompetenz erkannt. Krisper: „Man nahm sie allgemein zunächst vorwiegend als Kinderbuchautorin und Autorin hübscher Frauenliteratur wahr.“ Erst als Hans Weigel 1982 nach Steyr kam und im Gymnasium Werndlpark mehrere hundert Besucher wachrüttelte und Haushofers Verlag mit dem Verlust der Rechte an deren Werken drohte, setzte eine Wende ein, die zu einer Haushofer-Renaissance führte. Und auch die Kritik erkannte „den doppelten tiefen Boden ihrer Literatur und dass sie die Abgründe der bürgerlichen Gesellschaft aufgerissen hat“, so Krisper.

Eine zweite solche Welle des Interesses lösten die Verfilmungen von „Die Wand“(2012) und „Stella“ (2016) durch Julian Pölsler aus. Heute ist Haushofer viel anerkannter als zu Lebzeiten, im gesamten deutschen Sprachraum wird sie gelesen und verehrt, aber auch weit darüber hinaus. Unzählige Übersetzungen belegen das. „,Die Wand‘ ist ein existenzielles Werk, ein seelischer Zustand, wie Haushofer selbst einmal sagte“, betont Krisper. Haushofers Erzählungen und Romane haben nichts an Aktualität verloren.

Das könnte Sie auch interessieren