England hofft im EM-Finale auf Erlösung, Spanien auf Rekord

Für England geht es um den ersten Titel seit 58 Jahren oder 21.169 Tagen, Spanien könnte nach einem überragenden Turnier zum alleinigen Rekord-Europameister aufsteigen. Das Finale der Fußball-EM am Sonntag (21.00 Uhr/ServusTV, ARD) im Berliner Olympiastadion verspricht Spannung, ein Duell auf Augenhöhe. Während die Spanier alle bisherigen sechs Turnierspiele gewannen, fahren die Engländer angetrieben von einer neuen Euphorie in der Heimat in die deutsche Hauptstadt.

Denn das späte 2:1 im Halbfinale gegen die Niederlande nährte bei den „Three Lions“ die Hoffnung auf das Ende der schier ewigen Durststrecke, vielmehr brachte aber die starke spielerische Vorstellung der Milliarden-Truppe von Teamchef Gareth Southgate in der ersten Hälfte wieder Zuversicht. „Nur noch ein Schritt, dann sind wir im Geschichtsbuch“, sagte der noch titellose Bayern-Torjäger Harry Kane.

„Das ist noch nicht das Ende“, kündigte Southgate an. Der 53-jährige Cheftrainer, der vor zweieinhalb Wochen nach schwachen Leistungen noch mit Bierbechern beworfen und leidenschaftlich ausgepfiffen wurde, ist auf dem Weg zum Nationalhelden und steht nun vor der ultimativen Krönung. Im Fußball kann es eben schnell gehen.

Denn nicht die spielerische Klasse, sondern etwas Glück, ein Last-Minute-Geniestreich von Jude Bellingham im Achtelfinale gegen die Slowakei und viel Moral haben England nach einer schwachen Gruppenphase ins Endspiel geführt. Dort wartet nun „ein gigantisches Spiel, das unser Leben und das Leben unserer Familien verändern kann“, sagte Cole Palmer, der den späten Siegtreffer von Ollie Watkins im Semifinale aufgelegt hatte.

Die Sehnsucht beim Weltmeister von 1966 auf den ersten EM-Titel ist groß, wie schon vor drei Jahren ist der silberne Henri-Delaunay-Pokal greifbar. Damals standen die Lokalmatadoren nach einem verlorenen Elfmeterschießen im Finale gegen Italien trotz des Heimvorteils im Wembley-Stadion mit leeren Händen da. Das soll sich in Berlin, im ersten großen Finalspiel der Engländer im Ausland überhaupt, ändern. „Wir sind jetzt ruhiger in den K.-o.-Spielen und viel besser vorbereitet. Aus jeder Erfahrung lernst du“, betonte Southgate.

Seinem Team gelangen drei Comebacks in drei vergangenen drei Spielen, im Viertelfinale gegen die Schweiz behielt England im Elfmeterschießen die Nerven. König Charles III. sorgte sich deshalb um den Blutdruck der Nation, der neue Premierminister Keir Starmer lässt das Volk im Falle eines EM-Titels von einem neuen nationalen Feiertag träumen. Starmer wird genauso wie unter anderem Prinz William, der spanische Regierungschef Pedro Sanchez oder der spanische König Felipe VI. im Stadion anwesend sein.

Southgates Amtszeit, die seit 2016 läuft, könnte unabhängig vom Final-Ergebnis doch noch fortgesetzt werden, wie der britische „Telegraph“ berichtete. Nun wartet der wohl größtmögliche Gegner. Denn Spanien ist bisher zweifellos das Team dieser EM, warf in packenden Spielen nacheinander Gastgeber Deutschland und Topfavorit Frankreich aus dem Turnier und wird von den Buchmachern auch als leichter Favorit gehandelt.

Teamchef Luis de la Fuente erwartet sich „ein riesiges Spektakel“ im Endspiel, in dem er wieder auf die zuletzt gesperrten Abwehrspieler Dani Carvajal und Robin Le Normand zurückgreifen kann. Angeführt von der fulminanten Flügelzange Lamine Yamal und Nico Williams hofft die Furia Roja, die rote Furie, auf den vierten EM-Titel nach 1964, 2008 und 2012. Das wäre alleiniger Rekord.

Supertalent Yamal, der mit seinem Traumtor beim 2:1 im Halbfinale gegen Frankreich zum jüngsten EM-Torschützen avancierte, und Williams erleben derzeit sowieso Feiertage en masse. Williams feierte am (heutigen) Freitag seinen 22. Geburtstag, auch Yamal wollte seinen 17. Geburtstag am Samstag unbedingt mit seinen Teamkollegen zelebrieren. Am Sonntag soll der dritte Feiertag folgen.

„Wir schaffen dieses Gefühl der Hoffnung. Die Menschen träumen und freuen sich“, sagte De la Fuente. Das gilt vor allem für Teenager Yamal, der altersmäßig auch der Enkel seines 63-jährigen Trainers sein könnte. Der gewaltige Hype nach seinem historischen Traumtor nahm noch einmal zu. Ein Foto von Yamal, wie er als Baby von Superstar Lionel Messi gebadet wird, ging in den sozialen Medien viral.

Wird Yamal am Sonntag Europameister, wäre er genau halb so alt wie Messi bei seinem ersten großen Titel mit Argentinien. Anders als andere Jugendliche in diesem Alter wünscht sich der Superkicker vom FC Barcelona zu seinem Ehrentag keine besonderen Geschenke. „Nichts, nur gewinnen, gewinnen, gewinnen“, sagte er.

De la Fuente soll sich laut einem Bericht der Sportzeitung „As“ auch bald über eine Vertragsverlängerung inklusive deutlich besserem Gehalt freuen dürfen. Demnach gebe es einen einstimmigen Beschluss des Vorstandes des spanischen Verbandes, unabhängig vom Ausgang des Endspiels. Sollte De la Fuente den neuen Vertrag annehmen, würde dieser bis einschließlich der WM 2026 gelten mit Option für zwei weitere Jahre. Der Coach soll „As“ zufolge in Zukunft 1,8 Millionen Euro zuzüglich Prämien erhalten, derzeit sollen es jährlich 600.000 Euro sein.

Die neue Furia Roja mit Offensivschwung, viel Abgezocktheit und Rodri als Chef im Mittelfeld beeindruckt auch Southgate. „Wir spielen gegen das beste Team des Turniers und wir haben einen Tag weniger zur Vorbereitung. Aber wir sind immer noch hier und wir kämpfen“, sagte der Coach. „Uns steht der größtmögliche Test überhaupt bevor.“

Auf das Finale bereiten sich die beiden Teams ohne großen Trubel vor. Southgate ließ die vorletzte Einheit am Freitag hinter geschlossenen Türen absolvieren. Der Schachzug, sich fernab der eigenen Spielorte in der Idylle einzuquartieren und möglichst viel Ruhe zu genießen, scheint bei beiden Mannschaften aufgegangen zu sein.

Am Samstag geht es für die Spanier von Donaueschingen nahe des Bodensees und für die Engländer von Blankenhain in Thüringen in die Hauptstadt. Bevor sie ihr Quartier nach fünf Wochen ein letztes Mal verlassen, genossen Kane und Bellingham im heißen Pool noch einmal die Zeit im Wellness-Bereich ihres Luxushotels. Von Berlin soll es direkt zurück auf die Insel gehen – am besten mit dem ersten Triumph nach 58 Jahren Tristesse.

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