Spüren, mit Haut und Haaren

Junges Theater ab 13: Premiere von Corinna Antelmanns „Alienation“

Als Kind fantasierte sich Nikola (Isabella Campestrini) nach Schlumpfhausen, jetzt zieht es sie in bunte Computerwelten.
Als Kind fantasierte sich Nikola (Isabella Campestrini) nach Schlumpfhausen, jetzt zieht es sie in bunte Computerwelten. © Philip Brunnader

Nikola, von den anderen Nico gerufen, ist verzweifelt. Soll sie ihre Verzweiflung ins Klo kotzen? Nein, denn dafür gibt es längst die unendlich weite Welt des Internet. Hallo, ist da jemand? Jemand, der sich auch so fremd fühlt hier? Ein Außerirdischer, eine Außerirdische? Geschlecht ist egal, auch so ein Zwang, den sie dir als Mädchen reindrücken. Wie ein Junge zu sein hat, wie ein Mädchen zu sein hat.

„Alienation“ ist ein (unveröffentlichter) Roman der Bremer Autorin Corinna Antelmann. Regisseurin Nele Neitzke bekam den Text noch vor Corona in die Hand, war von der Geschichte begeistert und fand schließlich in der pandemiebeschleunigten Netzbühne des Linzer Landestheaters die ideale Ausdrucksform. Das Stück „Alienation“ ist die notgedrungen gekürzte Version des Romans mit theater- und jugendtauglichen Mitteln, Uraufführung war am Montag.

Sie fühlt sich als „Alien“

Nikola ist 14, vielleicht auch 17. Mädchen oder bald junge Frau. „Mannweib“ oder „Lesbe“ ruft ihr der Idiot der Klasse zu, weil sie auch einmal Männerkleidung ausprobiert. Zum Kotzen. Die gleichaltrige Marlene läuft mit schickem Täschchen herum, auch das übel. Die Eltern haben den Umzug beschlossen, ohne die Tochter zu fragen. „Freu dich auf deine neue Klasse“, sagt Mama. Ganz übel. Aber einmal hat Mama nicht ganz unrecht mit der Warnung vor „Sugar Daddies“. Diese warten im anonymen Internet darauf, das junge Menschen ihr unsicheres Herz offenbaren.

Von einer Dachkammer spricht Nikola zum Publikum. Im Internet sucht sie nach Gleichgesinnten. Nach „Aliens“, die sich so fremd fühlen wie sie. Ein alter Abdruck von Da Vincis „Johannes der Täufer“ als Inspiration, der feminin gemalte Heilige wird Nikolas Abbild in einem Computerspiel sein, der „Avatar“. Jemand klinkt sich in Nikolas virtuelle Welt ein, „Mona Lisa“, gemeinsam wandern sie durch künstliche Landschaft. Zwei Hagenberger Studierende, Nils Gallist und Manuel Lattner, entwarfen das Programm zu diesem Teil von „Alienation“.

Gender Studies und antike Mythen – Autorin Antelmann bzw. Regisseurin Neitzke muten ihrer jungen Figur einiges an Bildungsballast zu. Aber die wirklich coole, wirklich sympathische Präsenz von Isabella Campestrini souverän, sie wirft die Wissensperlen lässig unters Volk.

Der Name Mona Lisa ein Anagramm von da Vincis Geliebtem, das weltberühmte Gemälde zweigeschlechtlich. (Also deshalb die Faszination?) Oder der Mythos vom Menschen, der eins mit sich war. Bis Göttervater Zeus das runde Wesen in Mann und Frau teilte. Seither Chaos, trübe Sehnsucht, Verstörung. Ein drittes Geschlecht heute zumindest popkulturell auf dem Vormarsch: Kann es zwanghafte Zuschreibungen beenden?

Tastend auf der Suche

Merklich entspringt „Alienation“ der Fantasie einer „älteren“ Generation, die Computerwelten noch nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat. Fast notwendig schlägt das Stück die Richtung ein, dass Begegnungen mit Haut, Haaren, Gesicht vielleicht doch das Beglückendere sind. Vielleicht kommen ja trotzdem Junge, sofern nicht brainwashed von der Elektronik, zum selben Resultat.

Unabhängig vom Alter gültig ist die Suche nach sich selbst. „Alienation“ hat etwas charmant Tastendes, Fragmentarisches. Wie das eben läuft mit dem Selbst-Finden, mit der Selbstdefinition. Das dauert im guten Fall ein ganzes Leben lang.

Von Christian Pichler

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