„Trümmerfeld an kleinen Seelchen“

Landestheater streamt „Vereinte Nationen“ von Clemens J. Setz

Karin (Gunda Schanderer) liebt ihre Tochter, hat aber keine Skrupel, sie gewinnträchtig in Videos vorzuführen.
Karin (Gunda Schanderer) liebt ihre Tochter, hat aber keine Skrupel, sie gewinnträchtig in Videos vorzuführen. © Petra Moser

Anton und Karin verdienen sich im Internet etwas dazu. Und zwar, indem sie Videos online stellen, in denen zu sehen ist, wie der junge Vater seine zirka siebenjährige Tochter Martina ganz schön autoritär maßregelt, wenn sie etwas falsch macht. Das Mädchen hat keine Ahnung davon, dass sie ständig von einem Kameraauge beobachtet wird. Und Erziehungsvideos finden Abnehmer, sagt Oskar (Alexander Hettele), Freund der Familie und Internetkenner. Anfangs sind es reale Situationen, „Natural Scenes“, doch dann äußern die Abnehmer immer wieder Wünsche, wie Anton auf das Fehlverhalten seiner Tochter reagieren soll.

„Vereinte Nationen“, das erste und gleich auch preisgekrönte Theaterstück des Grazer Schriftstellers Clemens J. Setz aus 2017, greift die Verführung Internet, die rücksichtslose Geilheit auf Follower und das damit verbundene Geld ebenso auf wie den Voyeurismus der Zuseher, der nicht minder grausliche Blüten treibt und Leute dazu bringt, Grenzen zu überschreiten. Am Samstag ging mit dem bitterbösen Gesellschafts- und Sittenporträt die letzte Netzbühnen-Premiere vor der Öffnung des Hauses für Live-Publikum über die Landestheater-Bühne.

Zwischen analoger und virtueller Realität

Die „Standpaukenkategorie“ sei nicht schlecht, aber man könnte sich da schon noch steigern, meint Oskar und versucht, Anton weiter zu verführen. Gut, dann werden die Szenen halt gestellt, aber Anton hat „Performanceschwierigkeiten“, für ihn gäbe es Grenzen: eine Ohrfeige wäre so eine oder Leute, die seine Tochter und ihn auf der Straße erkennen und anstarren. Ihn quälen zusehends Gewissensbisse und Ängste wegen dem, was er da mit seinem Kind macht, gleichzeitig rechtfertigt er sein Tun mit jeder noch so billigen Ausrede — und macht weiter. Markus Ransmayr schlüpft glaubwürdig in die Rolle des zwiegespaltenen Vaters, der trotz Unbehagens den pädagogischen Dampfhammer bis zum Psychoterror schwingt und vor der Kamera — wie seine Frau findet — „Geiles“ wie „Den Ton kannst du bei den Vereinten Nationen anschlagen, aber nicht bei mir!“ zu Martina sagt. Gunda Schanderer sind als Mutter steigende Abnehmerzahlen wichtiger als ihr Kind und sie ist überzeugt davon, dass sie es vor der Kamera besser machen würde.

Setz macht es uns nicht leicht, zeichnet die Charaktere vielschichtig, durchlässig: Die Eltern lieben ihr Kind, machen sich Gedanken um die Erziehung, das kommt auch in Alexander Julian Meiles Inszenierung durch. Ihnen sind die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Reality-Show abhanden gekommen. Interessen und Bedürfnisse der kleinen Tochter bleiben auf der Strecke — ein „Trümmerfeld an kleinen Seelchen“, wie es im Text heißt. Die einst aufgeweckte Kleine reagiert zusehends schweigsam. Dass sie immer weniger auftaucht, lässt Schlimmes ahnen. Martina (Greta Gruber) ist „natural“. In all der Verlogenheit und dem gefakten Dasein ist sie „eine kleine Insel der Aufrichtigkeit“.

Die funktional gehaltene Bühne (Paul Lerchbaumer) dunkel, spartanisch, ein Tisch samt Sessel, der Holzboden mit Öffnungen, in denen Anton und Karin vor der Kamera und den gierigen Blicken kurz verschwinden. Regisseur Meile überlässt in dieser Reduziertheit zu Recht den guten Schauspielern und vor allem dem sprachgewaltigen, großartigen Text von Setz die Bühne.

  • „Vereinte Nationen“ ist vier Wochen on demand zu sehen, Premiere vor Publikum am 10. Juni, 20 Uhr, Studiobühne

Video
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Von Melanie Wagenhofer

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