Unter den Rädern der Ideologien oder Vom eigenen Anspruch zerrissen

Pietro Marcello versetzt Jack Londons „Martin Eden“ nach Italien

Bei den Filmfestspielen Venedig gewann Luca Marinelli den Darstellerpreis. Seine Leistung in „Martin Eden“ist herausragend.
Bei den Filmfestspielen Venedig gewann Luca Marinelli den Darstellerpreis. Seine Leistung in „Martin Eden“ist herausragend. © Filmladen

Martin sieht ein Gemälde, das ihn aus der Ferne fasziniert und anzieht. Die Schönheit verblasst, als er es von Nahem betrachtet, übrig bleiben nur Flecken. Elena lächelt milde über Martins Naivität, seine Unkenntnis. Später wird sie sehen, dass der begehrenswerte Schein hässlich werden kann, wenn er einen selbst umgibt. „Ich will so werden wie ihr.“ Naiv, aber voller Begeisterung sagt Martin Eden (herausragend: Luca Marinelli) diesen Satz zu Elena (Jessica Cressy). Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen dem Matrosen und der reichen Tochter. Martin sei sehr sympathisch, versichert Elenas Mutter beim gemeinsamen Essen, zu dem ihn ein Zufall brachte. Die Ungehobeltheit und seine geringe Bildung wird sie jedoch nicht leugnen.

Martin will seine Stimme erheben, dafür muss er sie finden in unzähligen Büchern, die er fortan verschlingt. Unermüdlich liest er, schreibt er, will sein Milieu verlassen. Ein Teufelskreis: Genau dieses Milieu nährt seine Geschichten und was ihn auf der Seite der Wohlhabenden erwartet, wird er nicht mögen. Nach vielen Absagen wendet sich das Blatt, und Martin Eden wird seinem Traum, Schriftsteller zu sein, so nahe kommen, dass er wie die Motte im hellen Licht verglühen wird.

Aus Londons Roman wird ein Gemälde

Regisseur Pietro Marcello versetzt Jack Londons teils autobiografischen Bildungsroman „Martin Eden“ nicht nur nach Italien, er formt aus der Geschichte ein Gemälde. An manchen Stellen grobkörnig und fragmentiert, an anderer großflächig, nahe, überdeutlich. Die Bilder, die auf der Leinwand entstehen, sind manchmal pompös, heroisch und über die Maßen dekadent, um dann wieder von undeutlichen Alltagsszenarien und Erinnerungsfetzen zersetzt und gebrochen zu werden. Es sind diese zwei Welten, in denen Marcellos Titelfigur wandelt: Die proletarische Herkunft, die Straße Neapels und die reiche Zukunft als Großbürger; die Welt als gelehriger Seemann und die als gefeierter Literat.

Die Themen sind groß, die „Martin Eden“ verhandelt: Bildung, Klassenkampf, die Geschichte Europas Anfang des 20. Jahrhunderts. Und mittendrin ein Mann, der sich durch alle Strömungen an die Oberfläche kämpft, Ideologien ausficht, aufbegehrt, um nicht unterzugehen — und schließlich doch unter die Räder gerät.

Dabei bleibt der Held kein Held, sondern verliert sich, Elena und sein Geistes-Freund Russ Brissenden (Carlo Cecchi) kommen ihm abhanden und übrig bleibt ein zerstörter Mensch. Vom eigenen Anspruch zerrissen? Oder scheitert Martin schließlich an der Unmöglichkeit des Aufstiegs? An den Barrieren, die das System vor jenen aufbaut, die es zu überwinden scheinen?

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von Mariella Moshammer

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