
Hohe Inflation, schwache Weltwirtschaft, politische Unsicherheit: Angesichts des schwierigen Umfelds senken die führenden Institute ihre Konjunkturschätzungen für Deutschland. Für heuer rechnen sie mit einem Rückgang des BIP um 0,6 Prozent. In ihrer am Donnerstag veröffentlichten Gemeinschaftsprognose geben sie der Koalition eine Mitschuld an der Flaute und warnen vor Subventionen einzelner Branchen durch einen Industriestrompreis.
Erfreuliche Nachrichten gibt es hingegen für Deutschland bei der Teuerungsrate. Die Inflation ist laut Schnellschätzung im September auf 4,5 Prozent gefallen, den niedrigsten Wert seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Der Wegfall des Tankrabatts und des 9-Euro-Tickets aus den Vergleichszahlen des Vorjahres haben statistisch zu dem Rückgang beigetragen. Treiber der Teuerung waren unverändert Nahrungsmittel. Die Deutsche Bundesbank rechnet zwar mit einem weiteren Rückgang, sieht die Teuerung aber auch mittelfristig über den Zielwert von rund zwei Prozent.
Besorgt zeigen sich die Ökonomen über das veränderte politische Klima im Land und darüber, dass sich extremes Gedankengut in der Gesellschaft ausbreite. Das könne langfristig Wachstum und Wohlstand kosten. „Derzeit gerät etwas in Gefahr, das bis vor kurzem in Deutschland als selbstverständlich galt“, sagte der Vizepräsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Oliver Holtemöller, in Berlin. „Nämlich ein gesellschaftliches Klima, welches Haushalten und Unternehmen das Vertrauen gibt, dass die Grundregeln unserer Gesellschaft allgemein akzeptiert werden, und dass diese Grundregeln deshalb auch in Zukunft Bestand haben.“
Extremes Gedankengut von rechts wie links gewinne an Boden, das den Respekt vor allen Mitmenschen und vor dem Eigentum sowie der Handlungsfreiheit anderer infrage stelle. „Mögen die unmittelbaren Konjunkturrisiken dieser Tendenz auch begrenzt sein, so gehen von ihr doch erhebliche Risiken für die langfristigen Wachstums- und Wohlstandsaussichten aus“, warnte Holtemöller etwa mit Blick auf migrationsfeindliche Einstellungen. Deutschland sei wegen der abnehmenden Erwerbsbevölkerung auf Einwanderung angewiesen.
Statt dem bisher erwarteten Wachstum beim BIP von 0,3 Prozent sagen die Institute nun für das laufende Jahr einen Rückgang von 0,6 Prozent vorher. „Der wichtigste Grund dafür ist, dass sich die Industrie und der private Konsum langsamer erholen, als wir im Frühjahr erwartet haben“, sagte Holtemöller. Für 2024 wird wieder ein Wachstum erwartet, das mit 1,3 Prozent aber schwächer ausfallen soll als im April mit 1,5 Prozent angenommen. 2025 soll es dann zu plus 1,5 Prozent reichen. Die Gemeinschaftsdiagnose dient der Regierung als Basis für ihre eigenen Projektionen, die wiederum die Grundlage für die Steuerschätzung bilden.
„Deutschland befindet sich seit über einem Jahr in einem Abschwung“, sagte Holtemöller. Die Wirtschaftsleistung liege zwar mittlerweile wieder auf dem vor Beginn der Corona-Pandemie erreichten Niveau, werde aber von deutlich mehr Erwerbstätigen erbracht. „Das bedeutet, die Arbeitsproduktivität ist kräftig gesunken.“ Um das zu ändern, fordern die Experten verbesserte Standortbedingungen, etwa durch Bürokratieabbau. Ein mit öffentlichen Geldern gedeckelter Industriestrompreis – um einzelnen energieintensiven Unternehmen etwa aus der Chemiebranche zu helfen – sei dagegen ein „Irrweg“, warnte der Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths. Die Politik der Regierung verunsichere private Haushalte und Unternehmen. „Dies erschwert ökonomische Planungen und trägt dazu bei, dass die Konjunktur nicht zügig aus dem Abschwung herausfindet“, so Holtemöller.
„Die konjunkturelle Schwäche ist mittlerweile auf dem Arbeitsmarkt angekommen“, schreiben die Institute. Angesichts der „notorischen und sich perspektivisch weiter verschärfenden Personalknappheit in vielen Bereichen“ erwarten sie allerdings nur einen „moderaten Anstieg“ auf 2,6 Mio. Arbeitslose im laufenden Jahr – das wären etwa 174.000 mehr als 2022. Bis 2025 soll die Zahl auf weniger als 2,5 Mio. sinken.
Für die Verbraucher halten die Institute eine gute Nachricht parat. „An der Preisfront entspannt sich die Lage nach und nach“, heißt es im Gutachten mit dem Titel „Kaufkraft kehrt zurück – Politische Unsicherheit hoch“. Die Inflationsrate dürfte demnach dieses Jahr bei 6,1 Prozent liegen, 2024 aber auf 2,6 Prozent fallen und 2025 weiter auf 1,9 Prozent sinken. „Mittlerweile haben die Löhne auf die Teuerung reagiert, sodass die Kaufkraft der Beschäftigten wieder steigen wird“. Dies stabilisiere den privaten Konsum.
Schwierige Zeiten werden der Baubranche vorhergesagt. Wegen gestiegener Finanzierungskosten dürften etwa die Wohnungsbauinvestitionen „bis in das nächste Jahr hinein wohl deutlich zurückgehen“. Auch vom Export seien vorerst keine großen Sprünge zu erwarten. „Die konjunkturelle Flaute in wichtigen Absatzmärkten wie dem Euroraum und China, von denen vor allem weniger Konsum- und Vorleistungsgüter nachgefragt werden, bremst die Exporte“, betonten die Institute.
Erstellt wird die Gemeinschaftsdiagnose vom RWI in Essen, vom Ifo-Institut in München, vom Kieler IfW, vom IWH in Halle und vom Berliner DIW, das nach dem Umbau der hauseigenen Konjunkturforschung wieder mit dabei ist.