Führende Forschungsinstitute rechnen auch wegen der Politik der deutschen Bundesregierung mit dem zweiten Rezessionsjahr in Folge für Deutschland. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2024 um 0,1 Prozent fallen und damit bereits das zweite Mal hintereinander schrumpfen, heißt es in dem am Donnerstag veröffentlichten Herbstgutachten. Im März war noch ein Mini-Plus von 0,1 Prozent vorausgesagt worden, nach minus 0,3 Prozent 2023.
„Seit mehr als zwei Jahren tritt die deutsche Wirtschaft auf der Stelle“, sagte die Leiterin des Bereichs Prognose und Konjunkturpolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Geraldine Dany-Knedlik, in Berlin. Die Wirtschaft ist von dieser Aussicht wenig begeistert. „Zwei Jahre in Folge Rezession, das gab es in Deutschland zuletzt vor mehr als 20 Jahren“, klagte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian. Große Sprünge sind auch künftig nicht zu erwarten: Für 2025 wurde die Vorhersage in der Gemeinschaftsdiagnose von 1,4 auf 0,8 Prozent gekappt. „An den Trend von vor der Pandemie wird das Wirtschaftswachstum nicht anknüpfen können“, sagte Dany-Knedlik.
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2026 soll ein Wachstum von 1,3 Prozent folgen. „Neben der konjunkturellen Schwäche belastet auch der strukturelle Wandel die deutsche Wirtschaft“, sagte die DIW-Expertin. „Dekarbonisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel und wohl auch der stärkere Wettbewerb mit Unternehmen aus China haben strukturelle Anpassungsprozesse ausgelöst, die die Wachstumsperspektiven der deutschen Wirtschaft dämpfen.“
Die deutsche Bundesregierung ist den Instituten zufolge wegen ihres politischen Kurses mitverantwortlich für die Unsicherheit und Konjunkturschwäche. „Gerade in Zeiten des Strukturwandels ist für die Planungssicherheit der privaten Haushalte und der Unternehmen ein klarer wirtschaftspolitischer Kompass gefragt“, betonten die Ökonomen. Die Regierung sei sich in vielen Punkten nicht einig, etwa in der Haushaltspolitik. „Damit Unternehmen und Haushalte wieder Vertrauen in die wirtschaftliche Stabilität fassen, scheint ein Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik unerlässlich.“ Dies sollte zu weniger Detailregelungen führen, weniger Subventionen für einzelne Firmen sowie zu weniger staatlich geförderter Besitzstandswahrung. „Es müssen die Rahmenbedingungen insgesamt verbessert werden“, forderte der Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths. Hilfen für einzelne Firmen und Branchen wie etwa für Volkswagen oder die Autoindustrie „gehen zwangsläufig zulasten anderer Unternehmen“, die die Subventionen aufbringen müssten. Für diese sei das ein Wettbewerbsnachteil im internationalen Konkurrenzkampf.
Ähnliche Forderungen kommen aus der deutschen Wirtschaft. „Für Klein-Klein ist die Lage der Wirtschaft zu ernst“, sagte DIHK-Präsident Adrian. Die Firmen bräuchten ein deutliches Aufbruchssignal, um wieder richtig durchstarten zu können – etwa wettbewerbsfähige Energiepreise durch Begrenzung der Netzentgelte, niedrigere Steuern mit einer Abschaffung des Solidaritätszuschlages als erstem Schritt, schnellere Genehmigungen und ein konsequenterer Abbau von Bürokratie.
Besonders unter Druck sehen die Institute die Industrie. Deren Wettbewerbsfähigkeit leide unter den gestiegenen Energiekosten und der zunehmenden Konkurrenz durch hochwertige Industriegüter aus China, die deutsche Exporte auf den Weltmärkten verdrängten. Die schwächelnde globale Konjunktur spiegele sich in einem Mangel an neuen Aufträgen wider.
Symptomatisch für die Probleme sei hier die anhaltende Investitionsschwäche. Das nach wie vor hohe Zinsniveau und die große wirtschafts- und geopolitische Unsicherheit dürften sowohl die Investitionen der Firmen als auch die Anschaffungsneigung der Verbraucher belastet haben. „Die privaten Haushalte legen ihr Einkommen vermehrt auf die hohe Kante, statt Geld für neue Wohnbauten oder Konsumgüter auszugeben“, hieß es.
Die Konjunkturflaute geht nicht spurlos am Jobmarkt vorbei. In diesem und im kommenden Jahr soll die Arbeitslosenquote auf sechs Prozent steigen. Zum Vergleich: 2023 betrug sie 5,7 Prozent. Dieser Wert werde erst 2026 wieder erreicht. „Auf dem Arbeitsmarkt zeigt der wirtschaftliche Stillstand mittlerweile deutlichere Spuren“, erklärten die Institute.
Entspannung erwarten die Ökonomen bei der Inflation. Dieses Jahr sollen die Verbraucherpreise nur noch um durchschnittlich 2,2 Prozent steigen, nachdem die Teuerungsrate 2023 bei 5,9 Prozent gelegen hatte. In den beiden kommenden Jahren dürfte sich die Inflationsrate bei je zwei Prozent einpendeln.
Die Gemeinschaftsdiagnose dient der Bundesregierung als Basis für ihre neuen Projektionen im Oktober, die wiederum die Grundlage für die Steuerschätzung bilden. In der Frühjahrsprognose war das Bundeswirtschaftsministerium von 0,3 Prozent Wachstum im laufenden Jahr ausgegangen und hatte für 2025 plus 1,0 Prozent vorausgesagt. Erstellt wird die Gemeinschaftsdiagnose vom RWI in Essen, vom Ifo-Institut in München, vom Kieler IfW, vom IWH in Halle und vom Berliner DIW.