Zerrissene, dekadente Figur

Bregenzer Festspiele: Arrigo Boitos unvollendete Opernrarität „Nero“

Schmerzhaft schön: Brett Polegato (Fanuèl) in der Abschiedsszene mit Alessandra Volpe als Rubria
Schmerzhaft schön: Brett Polegato (Fanuèl) in der Abschiedsszene mit Alessandra Volpe als Rubria © Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Die Tradition einer Oper im Festspielhaus pflegt man in Bregenz heuer mit „Nero“ des 20-jährigen Dichters und Komponisten Arrigo Boito (1842-1918). Eine lohnende Ehrenrettung für den eine neue Kunstform anstrebenden Italiener und Freund von Verdi, als dessen Librettist von „Othello“ und „Falstaff“ er von der Opernliteratur nicht wegzudenken ist. Allein sein eigenes Werk blieb bis heute auf den Spielplänen so gut wie vergessen.

Ein ganzes Leben, nämlich 56 Jahre lang, rang Boito mit der Abfassung seiner Oper „Nero“ und vollendete doch nur die ersten drei Akte, für den vierten gab es Skizzen ohne Instrumentierung. Eine vieraktige Spielfassung erstellte Arturo Toscanini, die Uraufführung an der Mailänder Scala 1924 blieb ohne den geplanten fünften Akt also unvollendet. Dem Betrachter fehlt er nicht, wie die grandiose Aufführung in Bregenz bestätigt hat. Vielmehr überwog der Gesamteindruck die Tatsache, dass hier die noch mit so viel Einsatz und Hingabe gelungene Umsetzung die Erwartungen von einer großen Oper nicht einlöst.

Es mag ja auch nicht leicht sein, die zerrissene, dekadente Figur des römischen Kaisers als Muttermörder, Christenverfolger, Roms Zerstörer, Tyrann und zugleich Feigling, den gängigen Opernstoff von Monteverdi bis Mascagni, in allen seinen Facetten auf der Bühne zu zeigen. Regisseur Olivier Tambosi wusste die Lösung darauf. Er erzählt keine historische Begebenheit, sondern lässt die Figuren in einem symbolhaften Spannungsfeld agieren im Kampf zwischen Gut und Böse, Kreativität und Zerstörung, Paradies und Hölle, nach dem Dualismus-Rezept, wie es die Nero-Epoche der kaiserlichen Machtstellung im Widerstand gegen das Christentum diktiert.

Exzesse & Grausamkeit

Dass Tambosi die austauschbaren Bilder auf der Drehbühne von Frank Philipp Schlössmann mit den grellen Lichtsäulen von Davy Cunningham den Inhalt durch eigene Bildvorstellungen zu überschütten beliebt, tut dem Verständnis nicht immer gut, lenkt aber den Blick umso mehr auf die Bühnenoptik auch der Kostüme (Gesine Völlm), deren blutige Farben die Exzesse und Grausamkeiten veranschaulichen.

Boito komponiert nicht mit durchgehendem Konzept, zu sehr mit Ansätzen und Floskeln, dafür mit Stiltreue gegenüber der Zeit und einem durchdachten harmonischen Muster für die einzelnen Szenen. Die sängerische Besetzung kann sich hören lassen: der mexikanische Heldentenor Rafael Rojas trifft seine Charakterrolle als Nero großartig, Lucio Gallo als sein Gegenspieler Simon Mago verkörpert glaubhaft den eigentlichen Bösewicht, Brett Polegato als Fanuèl im Herz-Jesu-Kostüm gelingt in der Abschiedsszene mit der Vestalin Alessandra Volpe als Rubria vor dem abgebrannten Rom einer der schönsten Momente, die russische Sopranistin Svetlana Aksenova spielt glaubhaft die Schlangenbändigerin Asteria, wenn auch stimmlich etwas angestrengt. Der Prager Philharmonische Chor liefert seine in Bregenz bekannten Glanzleistungen. Für alle positiven gesanglichen wie instrumentalen Höhepunkte sorgt mit großer Pultpräsenz bei der Leitung der Wiener Symphoniker Dirk Kaftan. Die laut bedankte Produktion ist nur noch am 2. August zu sehen. Man sollte diese letzte Gelegenheit nicht versäumen.

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Von Georgina Szeless

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