„Tagebuch einer Invasion“ hat der ukrainische Autor Andrej Kurkow sein erstes Buch über den russischen Angriff auf sein Heimatland genannt. Die Einträge reichten von 29. Dezember 2021 bis 11. Juli 2022. Nun ist die Fortsetzung auf deutsch erschienen. Schon der Titel sagt viel: „Im täglichen Krieg“. Im Zentrum der von 1. August 2022 bis 25. Februar 2024 reichenden Beiträge stehen Alltagsbetrachtungen. Wie verändert sich das Leben der Menschen in einem kriegführenden Land?
Man erfährt viele schockierende und bedrückende Details über die weiterhin andauernde Aggression. Die GPS-Koordinaten zur Programmierung der russischen Raketenziele können etwa auch das Schlafzimmer eines Getreidegroßhändlers betreffen, der aus der Ferne punktgenau liquidiert wird. Kurkow berichtet über die hohe Nachfrage und das geringe Angebot privater Minenräumdienste und die horrenden Kosten. Man liest über Lager, in denen die russische Armee die Bevölkerung eroberter ukrainischer Ortschaften zur ideologischen Überprüfung interniert, und über den Verlauf von Zahnarztbesuchen in Zeiten jederzeit möglicher Stromausfälle.
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Absurde Situationen und tragikomische Aspekte
Kurkow, dessen 1996 erschienener Roman „Picknick auf dem Eis“ heuer in 100.000 Gratis-Exemplaren in Wien verteilt wurde, hat seinen Humor nicht verloren und arbeitet immer wieder absurde Situationen und tragikomische Aspekte dieses Ausnahmezustands heraus. Seine derzeitigen Lebens- und Arbeitsumstände seien hingegen alles andere als lustig, schilderte er unlängst im Gespräch mit der APA: „Manchmal fahren meine Frau und ich aufs Land, wo wir eine Autostunde von Kiew entfernt ein Haus haben. Dort ist es einfacher zu arbeiten, denn in Kiew kann man nicht schlafen: Die ganze Nacht gibt es Explosionen, Drohnen und Sirenen. Seit zweieinhalb Monaten geht das so.“
Als Kurkow in Wien war, lenkte ein besonderer Jahrestag die Aufmerksamkeit der Welt auf den Konflikt: 1.000 Tage Krieg. Der erste und zweite Jahrestag des Beginns der russischen Invasion sind in seinem Buch besonders bittere Gelegenheiten zu Zwischenbilanzen, und Kurkow versäumt auch nicht, daran zu erinnern, dass der Krieg eigentlich zehn Jahre früher mit der Annexion der Krim begonnen hatte, ohne, dass sich ein weltweiter Proteststurm dagegen erhoben hätte.
Hoffen auf eine Klimt-Ausstellung in Charkiw
Der Autor verweist aber auch auf die besondere Bedeutung der Kultur – in der Aufrechterhaltung eines Kulturlebens, das die Werte des Landes pflegt und betont, aber auch im internationalen Austausch. „Für mich wäre eine Gustav-Klimt-Ausstellung in Charkiw, zum Beispiel, oder eine Egon-Schiele-Werkschau in Kyjiw ein bedeutsamer und symbolisch bemerkenswerter Meilenstein bei der Wiederbelebung des kulturellen Lebens der Ukraine“, schreibt er etwa. „Ich und alle anderen Ukrainer würden dadurch umgehend Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen in eine Zukunft der Ukraine im Schoße Europas schöpfen.“
Hoffnung und Zuversicht werden freilich derzeit auf eine harte Probe gestellt. Am 22. April 2024 verfasste Kurkow das Nachwort für sein Buch. „Der Krieg in der Ukraine geht leider weiter. Ich hatte gehofft, in diesem Buch beschreiben zu können, wie die Ukrainer jubelten, als die von den russischen Besatzern eroberten Gebiete befreit wurden.“ Doch er sei noch nicht zum Pessimisten geworden, und die Ukrainer blieben standhaft, schreibt er. Sein Dorfnachbar Tolik etwa halte weiterhin „an seinem Entschluss fest, sich erst wieder zu rasieren, wenn die Ukraine gesiegt hat“ – und liefere Toliks Frau, die mittlerweile neben einem bärtigen Waldschrat leben muss, „einen weiteren Grund, sich nach dem Sieg zu sehnen“.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
Andrej Kurkow: „Im täglichen Krieg“, Aus dem Englischen von Rebecca DeWald, Haymon Verlag, 432 Seiten, 22,90 Euro