Sein bisher letzter großer Roman erschien im Herbst vergangenen Jahres. „Lichtspiel“ erzählte das Lebensdrama des österreichischen Meisterregisseurs Gustav Wilhelm Pabst, der vor den Nazis in die USA emigrierte, in Hollywood nicht Fuß fassen konnte und in die Heimat zurückkehrte. Doch auch heuer muss man nicht auf ein neues Buch von Daniel Kehlmann verzichten: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“ versammelt Essays und Reden der vergangenen Jahre.
Das Titelzitat stammt aus dem letzten Wallenstein-Monolog aus Schillers Drama, den Kehlmann gleich im ersten abgedruckten Text, nämlich in seiner vor zwei Jahren gehaltenen Marbacher Schillerrede, auszugsweise einarbeitet: „Ich denke einen langen Schlaf zu tun, / Denn dieser letzten Tage Qual war groß, / Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“. Kehlmann analysiert diesen Satz ausgiebig und fügt trocken an: „Wallenstein wird den Morgen nicht erleben.“
Lesen Sie auch
Das Seeungeheuer und die Aufklärung
Wenige Sätze weiter ist der Autor bei Tom Stoppard und Alfred Döblin, zitiert aus einem CIA-Report und erinnert an einen Moment seines eigenen Erfolgsromans „Die Vermessung der Welt“, als er Alexander von Humboldt ein Seeungeheuer erblicken lässt – und dieser sich sofort dazu entschließt, es lieber nicht gesehen zu haben: „Aufklärung heißt immer ignorieren, heißt immer auch verdrängen, nicht aus Blindheit, sondern aus bewusster Entscheidung.“
Es ist diese Fähigkeit, leichtfüßig vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, die Leser bei diesen Gedankensprüngen mitzunehmen und immer wieder aufs Neue zu überraschen, die den Roten Faden dieser aus den unterschiedlichsten Anlässen heraus entstandenen Texte bildet. Er macht sich 2017 Gedanken zum Amtsantritt von Donald Trump (und kann nun in einer Fußnote feststellen, dass sich „nicht viel in diesem Text als falsch erwiesen hat“), deutlich lieber aber beschäftigt er sich mit Gottfried Wilhelm Leibniz und Ludwig Börne, Karl Kraus oder den „Terminator“-Filmen.
Erfolgreiche politische Intervention
Selten wird er kämpferisch. Dann aber mit erstaunlichem Erfolg. Als er am 15. Mai 2019 den Anton-Wildgans-Literaturpreis der Österreichischen Industrie entgegennahm, nützte er seine Dankesrede zu einem Frontalangriff gegen den „jungen Kanzler“, der vom rechten Koalitionspartner alles erdulde, um an der Macht zu bleiben, und wandte sich direkt an Sebastian Kurz: „Wollen Sie die Farce nicht beenden?“ „Da am 17. Mai das sogenannte Ibiza-Video an die Öffentlichkeit gelangte und darüber die Koalition zwischen ÖVP und FPÖ zerbrach, war mein Versuch eines öffentlichen Einspruches im Herzen der Österreichischen Volkspartei sofort auf die erfreulichste Weise obsolet geworden“, lautet die nun hinzugefügte Fußnote.
Viele Preise hat der Autor, der am 13. Jänner seinen 50. Geburtstag feiert, bereits erhalten, und in seinen Dankesreden zeigt er sich ihrer stets würdig. Aber auch als Eröffnungsredner und Laudator ist er gefragt. Und so ist natürlich auch die Lobrede abgedruckt, die Daniel Kehlmann am 22. Oktober 2023 in der Frankfurter Paulskirche auf den Friedenspreisträger Salman Rushdie hielt, und in der er nach einem kurzweiligen Parforceritt durch Leben und Werk des Autors „Salman eine veritable Rushdie-Romanfigur“ nannte.
Kehlmanns Essays und Reden sind absolut nachlesenswert. „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“ eignet sich mehr als Aufwach-, denn als Einschlaflektüre. Und der Nächste, der den Auftrag erhält, auf Kehlmann eine Laudatio zu halten, sollte sich ganz schön warm anziehen …
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
Daniel Kehlmann: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken. Essays und Reden“, Rowohlt, 304 Seiten, 25,70 Euro