Das verdammte Lied läuft in Endlosschleife, viel zu laut. Der Elfjährige übt Klavier, trifft die falschen Töne immer wieder. Später wird er eine traurige Melodie anstimmen, nur schwer zu ertragen für seine Mutter und ihn. Es ist nicht lange her, da hat der Junge seinen Vater tot vor dem Haus in den französischen Alpen gefunden. Seine Mutter gerät in Verdacht, den Vater geschlagen, hinuntergestoßen, ermordet zu haben.
Es hätte ein einfacher Thriller werden können, den die französische Regisseurin Justine Triet auf die Leinwand bringt, doch sie hat mit „Anatomie eines Falls“ einen Film gemacht, der die Figuren und ihre Beziehungen fabulös seziert, sie rücksichtslos aufwühlt und bloßstellt, und uns als Zuseher zu brutalen Voyeuren macht.
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Der Tod ihres Mannes Samuel (Samuel Theis) verfrachtet Sandra (Sandra Hüller) in eine Situation, in der sie ihre Ehe, ihren Mann, sich selbst preisgeben muss. Und was Justine Triet aus dieser gar nicht so originellen Ausgangssituation, die zu einem Gerichtsdrama wird, gemacht hat, ist absolut sehenswert.
Mit einem realitätsnahen Drehbuch, das Triet mit Arthur Harari verfasst hat, öffnet sie in dem Film so viele Ebenen, dass man kaum zu blinzeln wagt, um nicht eine zu verpassen, oder eine Nuance zu übersehen.
Was wir nicht wissen, erfinden wir
Die Musik ist nur eines der Elemente, die die Spannung vorantreiben, immer mehr ziehen sich die eigenen Nerven angesichts des Voranschreitens der Geschichte zusammen. Triet schafft es dabei, die fast banale Frage, ob Sandra es war oder nicht, im Blickfeld zu behalten und dabei gleichzeitig die vielen Fäden zwischen Vater, Mutter und Sohn aufzudröseln.
Satz für Satz dekonstruiert sie deren Leben, jene Erzählungen, die wir uns alle zurechtlegen, um uns und die Welt zu ertragen. Was wir nicht wissen, denken wir uns aus, und dann entscheiden wir uns für diese „Wahrheit“. Ein besonderer Clou: Die beiden Erwachsenen sind Autoren und auch der elfjährige Daniel (Milo Machado Graner) begreift — oder muss erkennen —, dass das Konstruieren von Geschichten überlebensnotwendig sein kann.
In „Anatomie eines Falls“ kehren sich Rollenbilder um, macht der Schlagabtausch zwischen Angeklagter und dem Psychiater des toten Ehemanns Abgründe auf und schmerzt der Audiomitschnitt eines Ehestreits nicht nur die Zuhörerschaft im Gerichtssaal merklich, sondern auch die im Kinosaal. Und eine Tiermetapher ist hier nicht platt, sondern öffnet wirklich die Augen.
Im höchsten Maße nachvollziehbar gewann Justine Trier mit „Antomie eines Falls“ die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes, im selben Maße unverständlich bleibt die Entscheidung der Jury Hauptdarstellerin Sandra Hüller („Toni Erdmann“) nicht mit dem Schauspielpreis auszuzeichnen. Hüller ist eine begnadete Darstellerin, aber so gut wie als angeklagte und anklagende Frau, sah man die 45-Jährige noch nie. „Anatomie eines Falls“, eine unbedingte Empfehlung!
Von Mariella Moshammer