Wer die Geschichte der Tunesierin Olfa und ihrer vier Töchter zum ersten Mal hört, ist wohl zwischen Erstaunen und Sympathie hin- und hergerissen. Während die beiden ältesten Mädchen freiwillig in den Jihad zogen, ist für die Zurückgebliebenen dieser Verlust ungemein schmerzlich. Regisseurin Kaouther Ben Hania zeichnet in ihrem hybriden Dokumentarfilm ein vielschichtiges Bild, das Frauenrechte wie Zukunftsängste bis zum Äußersten abklopft.
Dabei nutzt die tunesische Filmemacherin einen besonderen Kunstgriff: Sie lässt nicht nur die beiden absenten Hauptfiguren von professionellen Schauspielerinnen darstellen, sondern stellt auch Mutter Olfa ein Double zur Seite. In ihrem Fall ist es Hend Sabri, ein Star der arabischen Filmwelt. Sie soll in Olfas Haut schlüpfen, „wenn die Szenen zu belastend sind“, wie es heißt. Nun: In Sachen emotionaler Extreme herrscht in diesen knapp zwei Stunden kein Mangel.
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Es lag früh an dieser starken
Frau, ihre Familie zu verteidigen
Während sich die Treffen zwischen Profis und Laien vor der Kamera sowie ihre Gespräche über das, was hier passieren soll, wie eine Metaebene über den Film legen, liegt es zunächst allen voran an Olfa, ihr Leben nachzuzeichnen. Aufgewachsen in schwierigen Verhältnissen, lag es schon früh an dieser sehr starken Frau, ihre Familie zu verteidigen. Ihre Mutter war alleinerziehend, es gab nur Mädchen im Haus, und das führte mitunter zu beängstigenden Situationen.
Blick nach vorn: Die Härte, die sich Olfa in jenen Jahren angeeignet hat, sollte ihr weiteres Leben bestimmen. Als es für sie galt, einen Mann zu finden und die Ehe zu vollziehen, war sie alles andere als erfreut und brach dem Bräutigam in der Hochzeitsnacht kurzerhand die Nase. Das mit seinem Blut befleckte Bettlaken wurde von den Feiergästen dennoch gefeiert, glaubten sie doch, die Ehe sei traditionsgemäß vollzogen worden. Kinder sollte Olfa ihrem Mann ungeachtet dieses schwierigen Starts dennoch schenken, und zwar vier Töchter.
Das Recht der Frau über ihren eigenen Körper
Ab dem Zeitpunkt, als die Mädchen Teil der Erzählung werden, rückt ein bestimmendes Narrativ in den Vordergrund: das Recht der Frau über ihren eigenen Körper. Mit diesem Gedanken kann und will sich Olfa, die nicht nur durch ihren Ehemann Demütigungen erleben sollte, einfach nicht anfreunden. Die Töchter hingegen, die von der Mutter mit wortwörtlich harter Hand erzogen werden, scheinen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung entgegenzusehnen – ohne aber die Werte und Traditionen des Elternhauses ganz ablegen zu wollen.
Als finalen Akt der Rebellion entscheiden sich jedenfalls die beiden ältesten Töchter für eine Ganzkörperverschleierung. Der Arabische Frühling führt sie zu den Extremisten, anstatt einer aufgeklärten Welt nachzuspüren. Als Teenager ziehen sie schließlich in den Krieg, wobei die tunesischen Behörden bei diesem Abschnitt keine gute Figur abgeben. Der Schmerz über all das ist Olfa sowie den Töchtern Eya und Tayssir in jeder Sekunde ins Gesicht geschrieben. Sie sehnen sich nach einem Wiedersehen mit ihren Schwestern, die mittlerweile eine lange Haftstrafe absitzen.
Es ist ein ungemein tiefschürfendes Familienporträt, das Kaouther Ben Hania mit ihrem in Cannes prämierten und für einen Oscar nominierten Werk geschaffen hat. Gerade durch das Aufeinandertreffen von nachgespielten Szenen und direkter Erzählung entstehen Brüche, die einen Blick auf vergangenes Leid sowie gegenwärtige Verarbeitung möglich machen.
Zwar wirkt die betont ästhetische Inszenierung teils etwas befremdlich, wird den Protagonistinnen aber in jedem Sinne gerecht. Es ist nicht nur das konkrete Schicksal dieser Familie, das oft schwer zu verdauen ist, auch Fragen von Erziehung, Frauenrechte und danach, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen, schwingen mit.