Toter Bub in Tirol: Prozess gegen Vater endet mit Freispruch

Der Mordprozess gegen einen 39-Jährigen, dessen sechsjähriger Sohn im Sommer 2022 in der Kitzbüheler Ache in St. Johann tot aufgefunden worden war, hat am Donnerstag am Innsbrucker Landesgericht – nicht rechtskräftig – mit einem Freispruch für den Vater geendet. Die acht Geschworenen hielten den Deutschen, der eineinhalb Jahre in U-Haft gesessen war, einstimmig für nicht schuldig, den Buben in die Ache geworfen, damit getötet sowie einen Raubüberfall vorgetäuscht zu haben.

Mit den einstimmigen Freisprüchen hinsichtlich des Verdachts des Mordes und der Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach nur eineinhalb Stunden Beratung endete ein drei Verhandlungstage andauernder und unter großem Medieninteresse verfolgter Prozess. Der 39-Jährige hörte unter Tränen den Wahrspruch der Geschworenen, der von Besuchern mit Applaus quittiert wurde. Seine im Zuschauerraum anwesende Ehefrau, die auch während der Verhandlung zugunsten ihres Mannes ausgesagt hatte, stürzte mehrmals zu ihrem Mann auf der Anklagebank des Schwurgerichtssaals und umarmte ihn. Der Deutsche gab nach der Urteilsverkündung keine Stellungnahme mehr ab und wurde sofort enthaftet. Richter Andreas Fleckl hatte zuvor ebenfalls keine weitere Urteilsbegründung abgegeben. Das Urteil machte indes bereits vor der Verkündung unter den vor dem Gerichtssaal wartenden Angehörigen und Medienvertretern die Runde und führte zu emotionalen Ausbrüchen wurde.

Seine Verteidiger Albert Heiss und Mathias Kapferer holten dagegen wie schon bei der Beweisführung zu einer harschen Kritik an der polizeilichen Ermittlung aus. Diese sei „ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einer persönlichen Fehde von Ermittlern“ mutiert, fand Kapferer vor Journalisten scharfe Worte. Heiss kritisierte die lange Untersuchungshaft, die man „seelisch“ erst einmal „durchhalten“ müsse und brachte ein weiteres zivilrechtliches Vorgehen ins Spiel, das laut Kapferer aber „noch völlig offen“ sei. Nun gelte es abzuwarten, wie sich die Staatsanwaltschaft verhalte. Die Verteidiger gingen aber davon aus, dass diese kein Rechtsmittel einlegen werde. Das Urteil der Geschworenen sei nämlich „praktisch nicht bekämpfbar“. Zudem sprach Kapferer von einer „Zwei-Klassen-Justiz“. Der 39-Jährige wäre ohne finanziell aufwändige Gutachten wohl nicht freigesprochen worden.

„Keiner kann nachvollziehen, wie es ist, wenn man sich solchen Vorwürfen ausgesetzt sieht“, hatte der 39-jährige Deutsche, der im Unterland lebte, unter Tränen vor der Geschworenenberatung am dritten Prozesstag gesagt. Egal, wie die Entscheidung ausfalle, „die Geschichte wird kein Happy End für uns haben. Unseren Sohn bekommen wir nicht wieder.“ Es sei „unerträglich“, dass die Person, die für den Tod seines Sohnes verantwortlich sei, „noch immer frei herumläuft.“ „Wir werden niemals aufhören, nach ihm zu suchen“, sagte er um Fassung ringend. Es tue ihm leid, dass er den Buben nicht beschützt habe: „Das werde ich mir nie verzeihen können.“

Staatsanwalt Joachim Wüstner hatte zuvor in seinem Schlussplädoyer auf das „umfassende“ Verfahren zurückgeblickt. „Man könnte zum Schluss kommen, dass die Sache unglaublich kompliziert sei“, so Wüstner, der der Verteidigung eine Strategie des „Nebelgranaten-Werfens“ vorwarf. Die Sache sei mit Blick auf die Verletzungen des Angeklagten, die angeblich folgende Ohnmacht oder auch das Verhalten des angeblichen Räubers aber „gar nicht so kompliziert“ und führte etwa die Sektflasche, mit der der Angeklagte niedergeschlagen worden sein soll, ins Treffen. Diese habe sich schon vor dem angeblichen Raub auf Videos sichtbar im Kinderwagen befunden. Der 39-Jährige habe die Flasche vielmehr bewusst mitgenommen, weil er diese zur Vortäuschung eines Raubüberfalls gebraucht habe.

Auch die angebliche Ohnmacht und die Verletzungen seien nicht mit der Version des Angeklagten in Einklang zu bringen, meinte der öffentliche Ankläger. Vielmehr seien mehrere Indizien vorgelegt worden, dass keine Ohnmacht vorgelegen habe – etwa die Körpertemperatur des Angeklagten. Auch habe er von Anzeichen eines „Probierschlags“ am Hinterkopf des Angeklagten – also einer „Selbstverletzung“ – gesprochen.

„Ich habe mir auch das Gehirn zermartert, ob es nicht anders hätte sein können“, räumte Wüstner ein: „Aber auch wenn er es einfach geschehen hat lassen, ist er ein Mörder“. Dass er sein Kind getötet habe, sei die „einzige rationale Erklärung“ für das Vortäuschen des Raubüberfalls. Die emotionale Aussage der Mutter des Kindes, die sich für den Angeklagten verbürgt hatte, erklärte Wüstner mit einer emotionalen Zwangslage: „Es kann einfach nicht sein, was nicht sein darf.“ Würde sie sich eingestehen, dass ihr Mann ein Mörder sei, würde deren „Existenz zerbröseln“. Im Zweifel gelte zwar der Rechtsgrundsatz, für einen Angeklagten zu entscheiden, erinnerte Wüstner, das heiße aber nicht, „dass man sich dumm stellen muss“, appellierte der Staatsanwalt an die Geschworenen.

Für die Verteidigung ergriff Heiss das Wort und wähnte sich „im falschen Film“. „Sie müssen seine Schuld beweisen, nicht der Angeklagte seine Unschuld“, so Heiss in Richtung Wüstner. Niemand sei schuldig vor einer rechtskräftigen entsprechenden Entscheidung eines Gerichts, dennoch werde der Angeklagte bereits „als Mörder bezeichnet“. Solche Verfahren würden oftmals neu aufgenommen, meinte der Verteidiger: „Ein Justizirrtum ist das Schlimmste, was es in einem Rechtsstaat geben kann“. Er appellierte emotional an die Geschworenen, sich selbst vorzustellen, wie es wäre unschuldig schuldig gesprochen zu werden.

Die Schlussfolgerungen Wüstners aus dem Gutachten des gerichtsmedizinischen Sachverständigen Walter Rabl – der sich kritisch zur langen Ohnmacht und den Verletzungen geäußert hatte – teilte Heiss nicht. Er ortete Unstimmigkeiten in der Beschreibung des Zustandes des Angeklagten sowie auch in der Rekonstruktion bzw. des angeblichen zeitlichen Ablaufs der Tatnacht. Auch eine Ohnmacht seines Mandanten sei mit Verweis auf die Aussagen von Zeugen plausibel. Auch sei kein „Probierschlag“ festzustellen, zog Heiss die Ausführungen Wüstners in Zweifel. Die Körpertemperatur des Angeklagten sei durch Kleidung erklärbar. Die Internet-Suche nach „Ohnmacht“ sei im Zuge der Nachfrage der Tochter seines Mandanten wegen Feuerquallen erfolgt, meinte Heiss einmal mehr.

Zentral sei jedenfalls die Flasche, sagte Heiss. Dort habe der Angeklagte keine Spuren hinterlassen. Erneut zog Heiss angeblich mangelhafte Spurensicherung heran. Es seien „Vermutungen und Behauptungen“ geäußert worden, „das ist für ein Strafverfahren zu wenig“. Auch das Verhalten seines Mandanten vor der Tatnacht spreche nicht für ein Motiv. Im Zweifel müsse freigesprochen werden, redete Heiss den Verteidigern abschließend ins Gewissen und warnte vor einem „Fehlurteil“.

Ein Geschworener war zuvor ausgeschlossen worden, nachdem ein weiterer Geschworener dem vorsitzenden Richter Andreas Fleckl zuvor mitgeteilt hatte, dass dieser sich vor Beginn des Prozesstages dahingehend geäußert habe, dass er „sich schon sicher sei, wie er entscheidet“. Es handelte sich offenbar um jenen Geschworenen, der bereits am zweiten Verhandlungstag im Mittelpunkt eines Befangenheitsantrages gestanden war, weil er den Sachverständigen Rabl abseits des Verhandlungssaals angesprochen hatte. Das Verfahren wurde ab Mittag ohne den Geschworenen fortgesetzt.

Am Vormittag waren zuvor Gutachten von Petra Hatzer-Grubwieser von der Gerichtsmedizin Innsbruck sowie anschließend der IT-Sachverständigen Cornelia Menzel erörtert worden, die aber keine allzu großen neuen Erkenntnisse brachten. Die Gerichtsmedizinerin hatte sich mit DNA- und sonstigen Spuren vom Tatort beschäftigt. Auf der Sektflasche hätten sich laut der Gutachterin Spuren vom Opfer befunden. Auch eine Spur einer unbekannten Person – möglicherweise eine „Trinkspur“ – wurde gefunden. Auf Nachfrage des Richters betonte die Expertin, dass aufgrund eines Nicht-Vorhandenseins von Spuren nicht mit Sicherheit bestimmte Schlüsse gezogen werden könnten: „Eine Berührung kann, muss aber nicht Spuren hinterlassen.“

Schließlich erörterte die IT-Expertin Menzel, dass die Aufzeichnung von Schritten auf Mobiltelefonen an sich „nicht zuverlässig“ als Beweismittel sei. Die Daten seien theoretisch beeinflussbar – etwa wenn man das Telefon schüttle oder im Kreis gehe. Eine Internet-Suche nach „Ohnmacht“ und „Feuerquallen“ im Vorfeld der Tat sei in zeitlicher Nähe zueinander erfolgt und könne auf die Mittagszeit verortet werden, erläuterte Menzel. Der Angeklagte erklärte auf Nachfrage seines Verteidigers Kapferer, dass sein Smartphone per Gesichtserkennung versperrt gewesen sei: „Es war unbrauchbar für jemanden, der nicht mein Gesicht hat“, sagte der 39-Jährige. Das sei eine mögliche Erklärung dafür, weshalb ein mutmaßlicher Räuber das Mobiltelefon nicht mitgenommen habe.

Der Angeklagte hatte die vorgeworfene Tat stets vehement bestritten. Die ersten beiden Verhandlungstage waren am 17. und 18. Juli über die Bühne gegangen. In dem für großes Aufsehen sorgenden Fall war man ursprünglich von einem Raubüberfall auf den Vater ausgegangen und dass der Bub daraufhin selbst ins Wasser stürzte. Doch nach monatelangen, intensiven Ermittlungen, bei denen sich keine heiße Spur nach dem angeblichen Räuber herauskristallisierte, geriet der 39-Jährige selbst ins Visier und wurde schließlich am 27. Februar 2023 festgenommen.

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