Berührende Nawalny-Lesung bei den Salzburger Festspielen

Weniger ist mehr. Dass hinter dem etwas abgenützten Satz auch viel Wahrheit steckt, zeigte sich am Mittwoch bei der Lesung aus Gefängnisschriften des im Februar verstorbenen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny in Salzburg. Als die Festspiele im Dezember 2023 den Abend unter dem Titel „Hallo, hier spricht Nawalny – Briefe eines freien Menschen“ ankündigten, war der in Straflagern inhaftierte Oppositionspolitiker noch am Leben und kämpfte um ein anderes, ein freieres Russland.

Wenige Wochen später, am 16. Februar 2024, gaben die russischen Behörden den Tod des 47-Jährigen bekannt. Umso bedrückender sind die Briefe, die er aus der Gefangenschaft schrieb. Ein politisches Vermächtnis und Zeugnis einer tiefen Liebe zwischen zwei Menschen.

Während die Schauspielerin Katja Kolm fast regungslos mit ruhiger Stimme nur einen Satz von Julia Nawalnaja sagen musste, um den gesamten Saal des Landestheaters in ihren Bann zu ziehen, vermochte Michael Maertens, der Alexej Nawalny nicht nur Stimme, sondern auch viel Gestik verlieh, das Publikum zwar im Kopf, aber nicht immer im Herzen zu packen. So mancher Besucher schaute zwischenzeitlich auf die Uhr, der Abend hatte Längen. Am Ende gab es Standing Ovations für die Lesenden – und vor allem für Alexej Nawalnys Vermächtnis.

Trotz zunehmender Schikanen, Folter und Isolationshaft spricht aus den Briefen ein Mensch, der sich an der Sicherheit, für die richtige Sache zu kämpfen, unermüdlich aufrichtet und die Hoffnung nicht verliert. Im Plauderton, mal zynisch, mal ironisch, aber immer analytisch und klar benennend, was Sache ist. „Ich habe mein Land und meine Überzeugungen. Und ich will weder mein Land noch meine Überzeugungen aufgeben. Und ich kann weder ersteres noch zweiteres verraten“, heißt es in einem seiner letzten Briefe.

Bei den Beschreibungen des Gefängnisalltags und all der Strafen, Erniedrigungen und Schikanen, die an der Tagesordnung waren, verschwand bei Maertens der Mensch Nawalny manchmal hinter Zynismus, Pointen und Posen. Intensiv und berührend hingegen jene Stellen, an denen er sich direkt an seine Frau Julia wandte, an denen er als liebender Ehemann und Vater sprach. Ein Paar am Rand des Abgrunds, kämpfend und sich gegenseitig schützend, wo es keinen Schutz mehr gab. Katja Kolm, die wenige kurze Passagen aus Briefen und Texten von Julia Nawalnaja vortrug, berührte mit jedem Satz. Sie zeichnete mit großer Empathie eine starke Frau, würdevoll, kämpfend, liebend und verletzlich.

Kolm, die auch für das Konzept des Abends und die Textauswahl verantwortlich war, hat seit 2021 die Gefängnisschriften Nawalnys gesammelt. Ausgesucht hat sie Briefe, die zwischen September 2020 – nach dem Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker – und Februar 2024 entstanden sein. Ein bedrückender Abend, der Applaus am Schluss galt vor allem dem Menschen Alexej Nawalny und seinem politischen Vermächtnis.

(Von Claudia Lagler/APA)

salzburgerfestspiele.at

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