Ein wundersames, ein allzu menschliches Geschöpf stolpert dem Clown vor die Füße. Doris heißt die junge Frau, „getauft und christlich und geboren“. Hungrig und obdachlos, aber im glitzernden Teil Berlins angekommen vorerst voller Hoffnung: „Ich will ein Glanz werden.“ Glanz?
Auf der Bühne stehen und dem Elend des krisengeplagten Alltags enthoben sein. Hohe Zeit der Varietés, Rausch, schöner Schein im Berlin der frühen 1930er. Unschuldig, auf entzückendste Weise frech ist die Traumtänzerin Doris, Männer mit Geld kennenzulernen eine Frage des Überlebens.
Mit dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ von 1932 wurde Irmgard Keun (1905-1982) zum Shooting Star des literarischen Berlins. Keuns Romane landeten auf den Scheiterhaufen der NS-Bücherverbrennung, sie klagte (!) deshalb das „gottverfluchte Regime“, natürlich erfolglos. 1936 ging sie ins Exil.
Premiere der Bühnenfassung von „Das kunstseidene Mädchen“ war am Donnerstag in der Tribüne Linz. Rudi Müllehner gibt den Clown, der Doris in die Garderobe seines heruntergekommenen Etablissements einlädt. Dort bedient sich Doris am reichen Fundus und führt ihr eigenes bühnenreifes Leben vor. Soll man lachen, soll man weinen? Lisa Kröll spielt die Doris mit herzerwärmender Frische, die Grenzen zwischen Komödie und Tragödie sind fließend.
Theater durch Reduktion und Verdichtung, Regisseurin Cornelia Metschitzer setzt bewährte Mittel der Tribüne ein: Pantomime, Stummfilm-Elemente, Gesang, Schauspiel, eine Revue, immer wieder ein gut gesetztes Innehalten. Müllehner singt und übernimmt virtuos sämtliche Männerrollen, vom eitlen Erfolgsschriftsteller bis zum lüsternen Familienpatron.
Das Lied vom „moralischen Getue“: Gut ist der Mensch nur in der Ehe oder wenn er arbeitet. Da bleibt die ehrliche Doris lieber arm und eine Hure. Die Masken fallen, bürgerliche Scheinmoral zerbröselt, die braune Brut wird bald das Vakuum füllen. Die Entdeckung einer bedeutenden Autorin und ein sehr erfreulicher Abend, langer Applaus. Christian Pichler