Die Menschwerdung von Kafkas Gefühlen und Gedanken in Gmunden

Gmundner Festwochen: Sven-Eric Bechtolf inszeniert und spielt Kafka: „Ein Bericht an eine Akademie“ und „Eine kleine Frau“

Sven-Eric Bechtolf, internationaler Opern- und Schauspielregisseur, Film- und Bühnenschauspieler, ausgezeichnet mit großen Bühnen- und Filmpreisen, gastierte am Freitag am Stadttheater Gmunden mit zwei dramatisierten Erzählungen von Franz Kafka: „Ein Bericht an eine Akademie“ und „Eine kleine Frau“.

Der Affe sitzt im Käfig, schiebt das Gitter weg, befreit sich. Und dann legt Sven-Eric Bechtolf los mit dem Vortrag des ehemaligen Affen Rotpeter. Als mittlerweile gelernter Mensch denkt und fühlt ein Teil von ihm noch äffisch, nun aber berichtet er vor einer akademischen Gesellschaft – dem p.t. Publikum –  von seiner Menschwerdung.

Mühsam sprechend, fixiert er in Affenhaltung das Publikum, ein Anlauf, noch ein Anlauf, dann erhebt er sich, steht aufrecht – und er spricht! Sein Durchbruch vom Affen zum Menschen. „Ihr Affentum, meine Herren, soferne Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine.“

Mit Schaum in den Mundwinkeln durchlebt er das Schicksal des Affen, der angeschossen und eingesperrt in eine Kiste die Überfahrt nach Europa knapp übersteht bis zum gefeierten Varietékünstler.  Nicht Freiheit, sondern nur einen möglichen Ausweg suchte er, um zu überleben, und später eine Chance auf sozialen Aufstieg zu finden.  In einer erbarmungslosen Selbstoptimierung gibt er seine tierische Existenz auf, assimiliert sich in einer Gesellschaft, die er insgeheim verachtet.

Als durchschnittlicher Europäers muss er spucken, rauchen und saufen lernen. Den Moment der Trunkenheit eines wehrlosen Tieres, eines besoffenen Menschen, zugleich aus der Distanz einer akademischen Betrachtung, erklärt und spielt Bechtolf mit einem Körper, mit einer Stimme in einem Atemzug so wissenschaftlich sachlich wie instinktiv tierisch.

„Menschenfreiheit! Oh du Verspottung der heiligen Natur“. Philosophie geht einher mit Affengeschnatter und äffischer Haltung. Seine gelegentlich wieder tierische Haltung verbindet er mit intellektuellem Sarkasmus, stets aber devot und zurückhaltend, mit Verständnis für unmenschliche Grausamkeit. Insgeheim fühlt er sich als überlegener Verbündeter von Logik und Vernunft.

Den zweiten Teil des Abends füllt ein nicht minder atemberaubender Monolog über „Eine kleine Frau“ aus Kafkas 1924 erschienenen Sammelband „Ein Hungerkünstler“. Als wolle er letzten Satz des „Berichts an die Akademie“ von der kleinen Schimpansin mit dem ihm unerträglichen „Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres“ nicht so stehen lassen, beschäftigt sich Bechtolf mit einem zwar völlig anderen, aber auch verstörenden Bericht eines Mannes über eine vorgeblich flüchtige Bekanntschaft.

Mit wenigen Worten bildet er anfangs äußerliche Details der kleinen Frau verbal ab, bis ins kleinste Teilchen so präzise, dass sie den Raum zu füllen scheint. Vor dem Hintergrund des Ich-Mannes, der keine Beziehung zu wollen facettenreich begründet, sie definitiv ablehnt, bis zur „vollständigen Endgültigkeit einer Nichtbeziehung“, entwickelt er eine Verbindung,  die intensiver nicht sein könnte.

Bechtolf türmt Kafkas Sätze und Gedanken in schier unfassbare Höhen. Stimmungen und Stimmlagen spielt er wie ein virtuoser Multiinstrumentalist, beherrscht eine Unzahl von Registern, und er zieht sie alle. Komplizierte Schachtelsätze strömen im Gedankenfluss, reißen mit in Gefühlslawinen, schlüssig und wortgewaltig bis zu seinem Abgang zurück in den Affenkäfig als vollendende Klammer des Abends.

Ein unfassbarer Mensch in einer ebenso unbegreiflichen Welt wird in zwei Gestalten sichtbar. Möglicherweise ist es der inkarnierte Kafka selbst, der da so greifbar in seiner abgründigen Vielschichtigkeit seinem Publikum die Ehre gibt.

Tiefe Verbeugung vor Sven-Erich Bechtolf mit großem Dank für diese fast zweistündige Sternstunde der Schauspielkunst.

Von Eva Hammer

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