2018 gab Ersan Mondtag mit einem Festwochen-Gastspiel seiner Hamburger „Orestie“ sein Österreich-Debüt, 2019 brachte er Sibylle Bergs „Hass-Triptychon“ im Volkstheater zur Uraufführung und bewarb sich für die Direktion des Hauses. Der 1987 geborene deutsche Regisseur, der heuer den deutschen Biennale-Pavillon mitgestaltete, wird künftig häufiger in Wien arbeiten: Am 24. Oktober feiert er mit „Toto“ sein Burgtheater-Debüt, ab 2025 wird er auch an der Staatsoper inszenieren.
APA: Herr Mondtag, Sibylle Bergs Roman „Vielen Dank für das Leben“ umfasst 400 Seiten. Im Bühnenmanuskript zu „Toto“ ist das auf knapp 60 Seiten verdichtet. Und dann kommen auch noch Sie als Regisseur dazu. Hat der Abend noch etwas mit dem Buch zu tun?
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Mondtag: Die Fassung hat Sibylle Berg selbst geschrieben. Es ist keine Romanadaption, sondern ein eigenes Stück, ein Auftragswerk, basierend auf ihrem Roman. Was sie nicht gemacht hat, ist, die Erzähltexte in Figuren zu gliedern – das hat die Dramaturgin Sarah Lorenz gemacht. Das Ganze soll kein Erzähltheater werden, sondern wir wechseln zwischen Erzähl- und Spielebenen, was eine ganz interessante Reibung erzeugt.
APA: Wie immer gestalten Sie den Raum selbst. Was waren Ihre Assoziationen dazu?
Mondtag: Der Roman spielt ja an vielen unterschiedlichen Schauplätzen. Ich wollte einen Einheitsraum schaffen, der eine eigene Welt behauptet. Dieses Haus wird im Grunde zu einer Metapher für das Leben der Figur. Es könnte eine verlassene Klinik sein, ein Sanatorium, ein Waisenhaus, eine Entbindungsstation oder ein Haus, in dem Menschen gelebt haben, das aber schon von der Natur zurückerobert wurde. Es ist baufällig, einsturzgefährdet. In diesem Raum durchläuft die Hauptfigur in der Erinnerung noch einmal ihr ganzes Leben. Die Bühnenrealität muss nicht unbedingt immer eins zu eins der Logik des Stückes entspringen. Ich versuche, eine eigene Bühnenwirklichkeit zu erzeugen. Theater hat eine eigene Wirklichkeit.
APA: Im Roman spielt Musik eine große Rolle.
Mondtag: Wir haben eine Komposition in Auftrag gegeben bei Beni Brachtel. Mit ihm arbeite ich schon länger zusammen. Wir haben 15 Live-Musiker, ein kleines Orchester. Es gibt ja 29 Lieder, die gesungen werden, deswegen hat das Gesamte eigentlich eine Musical-Struktur. Es ist Musiktheater, was wir da machen, ein Musikspektakel.
APA: Die Hauptfigur Toto verfügt eine ganz eigene Gesangsstimme, die die einen betört und die anderen irritiert. Wie setzen Sie das um?
Mondtag: Ich habe Toto mit Maria Happel besetzt und bin sehr glücklich darüber. Sie hat eine ganz besondere Art zu sprechen und zu spielen. Sie hat im Grunde keine Sprechtexte, sondern drückt sich immer nur durch Gesang aus. Sie hat teilweise herzzerreißende Gesangseinlagen. Am Ende wird sie, wenn sie eigentlich schon tot ist, in eine Erzählstimme übergehen.
APA: Das Stück hat Poesie, aber auch eine tiefe Melancholie. Immer mehr Theaterleute sagen aber: Das Leben ist schon schlimm genug, lasst uns etwas Heiteres machen!
Mondtag: Dieser Textvorlage wird eine Bühnenshow entgegengesetzt, die das Ganze mit viel Lust, Spaß und Witz auffängt. Natürlich ist die Erzählung depressiv, denn diese Figur ist tiefgreifend gutmütig in einer Welt, in der Menschen auf alles Gute draufschlagen, besonders dann, wenn es so pur und so gut ist wie bei Toto. Toto kennt ja das Böse nicht.
APA: Apropos schlimm genug: Wie geht es Ihnen persönlich angesichts der Weltlage?
Mondtag: Es ist eine Umbruchzeit. Ich bin jetzt 36 Jahre alt und habe in meinem Leben schon einige Umbruchphasen mitbekommen, von 9/11 bis zur Pandemie. Jetzt kommt eine weitere Veränderung. Ich sehe das nicht so fatalistisch, sondern eher als Aufforderung, sich grundsätzlich darüber Gedanken zu machen, wie man künftig leben will. Es hat sich eine gewisse Bequemlichkeit eingestellt in den letzten Jahrzehnten. Die Leute dachten, es könnte immer so weiter gehen – obwohl die Ungerechtigkeit in dieser kapitalistischen Systematik immer größer wurde und es immer offensichtlicher wurde, dass bestimmte grundlegende Probleme nicht behandelt wurden. Dass diese Unzufriedenheit von extremistischen Parteien aufgefangen wird, war logisch und vorhersehbar – in ganz Europa. Man hätte sich früher damit befassen müssen. Jetzt geht alles halt sehr schnell. Etwas wird sich ändern müssen – und daran kann man mitwirken. Die ganzen Parteien, die jetzt im Aufwind sind, haben keine Lösung. Deswegen sollte man sich selbst Lösungen überlegen.
APA: Haben Sie im Kopf, Ihre wievielte Inszenierung eines Stücks von Sibylle Berg das wird?
Mondtag: Das ist jetzt, glaube ich, die fünfte Uraufführung.
APA: Woher kommt diese Nähe?
Mondtag: Ich arbeite gerne mit ihr zusammen, weil sie eine entspannte Autorin ist und einen mit ihren Texten machen lässt, was man will. Vor allem aber: Sie sind gewissermaßen prophetisch. Ich hab auch ältere Texte von ihr inszeniert und dachte: Wahnsinn, da steht ja schon alles drinnen … Wenn man mit neuen Texten von ihr arbeitet, denkt man sich: Na, das ist ja schon ziemlich hart! Und später stellt man dann fest: Sie sind nicht mehr hart, sondern alltäglich. Ich finde es spannend, wie gut sie beschreibt, was ist – noch bevor wir selber es erkannt haben. Man lernt mit ihren Texten ganz viel über die Zukunft, darüber, wo der Weg, den wir eingeschlagen haben, hinführen wird.
APA: Als wir einander 2019 anlässlich Ihrer Inszenierung von Sibylle Bergs „Hass-Triptychon“ gesehen haben, war gerade Ihre Bewerbung für die Volkstheater-Direktion im Laufen. Sind Sie retrospektiv froh, dass Sie es nicht geworden sind?
Mondtag: Ich bin sehr froh darüber. Damals war ich schon traurig, aber wenn ich mir jetzt ansehe, wie sich das dort entwickelt hat, und wie sich mein Weg entwickelt hat – dann hätte mich das wohl nur aufgehalten. Ich habe jetzt etwa einen großen internationalen Opernschwerpunkt, den ich nicht so ausbauen hätte können, wenn ich in Wien am Theater festgesteckt wäre. Ich weiß auch nicht, ob sich dann der Deutsche Pavillon in Venedig ergeben hätte. Ich bin zufrieden, aber ich fand auch super, was Kay Voges gemacht hat. Das Volkstheater ist ja latent unterfinanziert, und es ist ganz erstaunlich, was er mit diesen begrenzten Mitteln an Ästhetiken geschafft hat.
APA: Am Burgtheater können Sie jetzt aus dem Vollen schöpfen?
Mondtag: Das Burgtheater ist das Mekka. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Es ist echt ein Luxus, hier zu arbeiten. Die Probenbedingungen sind ideal. Man hat hier die besten Leute in den Gewerken, das Ensemble ist ohnedies einzigartig. Es ist ein Riesenapparat – und er funktioniert richtig gut.
APA: Sie haben immer wieder auch als bildender Künstler gearbeitet – aber die Biennale Venedig war wohl eine andere Größenordnung?
Mondtag: Schon. In Venedig ist die Aufmerksamkeit, die man bekommt, einzigartig. Es hat total Spaß gemacht, war aber eine echt große Herausforderung. Der Deutsche Pavillon ist ja auch im Kontext der Geschichte ein besonderer Ort, und da hat man einen richtigen Staatsakt zu bewältigen. Dafür ist der internationale Austausch, den man dort hat, unglaublich. Ich bekomme jeden Tag Briefe aus der ganzen Welt, von Leuten, die mir ihre eigenen Geschichten dazu erzählen. Wir haben im Deutschen Pavillon jeden Tag zwischen 5.000 und 10.000 Leute. Die Biennale läuft ja noch bis Ende November. Am Ende hat man fast eine Million Besucher gehabt. Das ist echt noch mal eine andere Dimension.
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
ZUR PERSON: Ersan Mondtag, 1987 in Berlin als Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie geboren, arbeitet als Regisseur zwischen Theater und Musik, Performance und Installation und prägt seine Inszenierungen mit eigener Ästhetik. 2016 („Tyrannis“), 2017 (Die Vernichtung“) und 2019 („Das Internat“) wurde er mit Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Auch als Bühnen- und Kostümbildner wurde er ausgezeichnet. Heuer gestaltete er gemeinsam mit der israelischen Multimedia-Künstlerin Yael Bartana den deutschen Pavillon auf der 60. Kunstbiennale in Venedig und schuf einen Erinnerungsraum an seinen Großvater, den die Arbeit in einer Asbestfabrik umbrachte. Mondtags Auftragsbuch ist voll mit internationalen Produktionen, vor allem im Opernbereich: Im Dezember bringt er eine „Salome“ heraus, die in Gent und Antwerpen gezeigt wird, im März 2025 folgt in Lyon Verdis „La forza del destino“.
„Toto oder Vielen Dank für das Leben“ von Sibylle Berg, Regie und Bühne: Ersan Mondtag, Kostüme: Teresa Vergho, Komposition und Musikalische Leitung: Beni Brachtel. Mit: Bruno Cathomas, Gunther Eckes, Maria Happel, Sabine Haupt, Alexandra Henkel, Daniel Jesch, Dietmar König, Annamária Láng, Elisa Plüss, Markus Scheumann und Orchester. Uraufführung am 24. Oktober um 19.30 Uhr im Burgtheater. Nächste Vorstellungen: 30.10., 1.11., 6.11., burgtheater.at