Ein oberösterreichischer Beitrag regte heuer in Venedig 100.000e Besucher zu Diskussionen und interaktiven Reaktionen an. Die 60. Biennale von Venedig zum Thema „Fremde überall“ (Stranieri Ovunque – Strangers everywhere), eröffnete im April und schloss am Sonntag die Pforten.
Seit 1850, als der Bürgermeister von Venedig die Idee hatte, alle zwei Jahre eine Weltausstellung für Kunst zu veranstalten, ziehen riesige Besucherströme durch die öffentlichen Gärten in Venedig. Da die Zahl der teilnehmenden Nationen ständig wuchs, wurden auch die Schiffswerften (Arsenale) aus dem 16. Jahrhundert sowie Kirchen, Palazzi und Botschaften in der ganzen Stadt zu Ausstellungsorten.
Zehn Prozent der Stadtfläche als Ausstellungsorte
Mittlerweile stehen 10 Prozent der Stadtfläche als Ausstellungsorte für über 300 Künstler aus 87 Nationen zur Verfügung, Flanierfläche für eine elitäre Gesellschaft, wie Einheimische meinen. Die Proteste der lokalen Bevölkerung gegen den zusätzlichen touristischen Übergriff machten die österreichischen Architekten AKT& Hermann Czech bei der letzten Architekturbiennale zum Thema.
Der Rekord wurde mit 800.000 Besuchern verzeichnet. Ähnliche Zahlen lässt der heurige Andrang vermuten. Statistisch kommen mehr als die Hälfte der Gäste aus dem Ausland. Etwa 30 Prozent sind junge Menschen vor allem Studierende.
Mehr als eine halbe Million Besucher vertieften sich demnach auch in die Arbeiten von Anna Jermolaewa im österreichischen Pavillon, der heuer aus Oberösterreich beschickt wurde. Jermolaewa ist besonders empfänglich für die politische Strahlung des Fremdseins, da sie ihre Kindheit in der Sowjetunion verbrachte, wo mehr denn je Kultur unter staatlicher Kontrolle steht.
Seit 2019 ist sie Professorin für Experimentelle Gestaltung an der Linzer Kunstuniversität. Zusammen mit Kuratorin Gabriele Spindler (Leiterin der Abteilung Kunst- und Kulturwissenschaften der OÖ. Landes-Kultur GmbH) gestaltete sie den viel beachteten Beitrag.
Scharen von Gästen beim Ballett
Scharen von Gästen sahen die raumfüllenden Videos von Ballettproben zu Tschaikowskys „Schwanensee“. Jermolaewa reflektiert, wie im sowjetischen Staatsfernsehen immer dann „Schwanensee“ in Endlosschleife gesendet wurde, wenn es politische Unruhe im Land gab.
Dreimal täglich verdichtete sich das Gedränge bei den Life-Performances der ukrainischen Tänzerin Oksana Serheivea. Ungeplant interagierten immer wieder Besucher an den Ballettstangen mit den raumhohen Figuren der Videos. Auch die sechs Original-Telefonzellen aus Traiskirchen, früher einzige Verbindung der Flüchtlinge mit der Außenwelt, waren ständig besetzt.
Rätselhaft hübsch mutete der gegenüberliegende Raum an. Frische Rosen, Tulpen, Kornblumen oder Lotus- und Orangenblüten erinnern an romantische Stillleben. Der Text an der Wand klärt auf: Jede der gezeigten Pflanzen verweist auf eine Revolution, die nach diesen Blumen benannt, für politischen Widerstand stehen.
Anna Jermolaewas Beitrag fügte sich hervorragend in das von Kurator Adriano Pedrosa formulierte Thema. Sie lässt auch die berühmte Architektur des Hollein-Bauwerks wirken und zeigt konzentriert ein Werk pro Raum. Thematisch geht sie aus von ihrer eigenen Flucht bis in die politische Gegenwart, multimedial vermittelt in einer Ästhetik, die man auch einfach schön finden kann.
Publikumsreaktionen
Publikumsmeinungen am 21.11. (drei Tage vor Schluss):
Andrea aus OÖ (60, Psychotherapeutin): „Genial fand ich es, dass real aus Röntgenbildern Schallplatten gemacht wurden, und in der Folge die künstlerische Umsetzung.“
Alain, Lausanne, (42, Kunstwissenschafter): „Es stellt sich die Frage nach Grenzen zwischen Dokumentation, Kunst und Ästhetik.“
Sophie, Wien, (39, Programmiererin): „Ich finde Jermolaewas Bezug zu Diktatur und Auflehnung in all ihren Arbeiten sehr interessant.“