Die Welt ist kompliziert. Punkt. Und man wird das Gefühl nicht los, dass sie zunehmend komplizierter wird. Wem trauen wir noch zu, dass er sie uns erklärt? Wer gibt uns ein so großes Gefühl von Vertrauen, dass wir uns trotz aller Ungewissheiten sicher fühlen?
Die aus Gmunden stammende Künstlerin Ella Raidel, die an der Technischen Universität Nanyang in Singapur unterrichtet, setzt auf Nicht-Menschliches — und liegt damit goldrichtig.
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„Regional-Express“ ist ein Projekt von Raidel, Petra Ardai und Marlene Rutzendorfer und Teil der Kulturhauptstadt Salzkammergut 2024. „Es braucht ein neues Erzählen“, sagt Filmemacherin Raidel und denkt dabei auch die Protagonisten an. Das Projekt, das in seiner ersten Phase als Audio-Begleitung für Zugfahrten im Salzkammergut funktioniert, hat drei Hauptdarsteller, die uns Menschen neue Perspektiven liefern: der Zug, der Berg und die Traunsee-Nixe.
Wir dürfen — ausgerüstet mit einem Handy, Kopfhörern und einem QR-Code (ab März auch über die App der Kulturhauptstadt 2024), der uns gescannt direkt zu dem Hörerlebnis führt — Gespräche zwischen den drei Unmenschlichen belauschen, angepasst an die Landschaft, die vor den Zugfenstern vorbeizieht.
Auch Menschen kommen bei der Zugfahrt von Gmunden nach Bad Aussee zu Wort, erinnern sich, die Geschichte und Geschichten der Region aus vielen Blickwinkeln werden greifbar. Eingeteilt in vier Ausflüge kann in Gmunden, Ebensee, Bad Ischl und Hallstatt eingestiegen werden, dem Zug leiht Chris Lohner ihre Stimme, Manfred Mayer gibt den Berg und Miaoxin Wu die Nixe, der estnische Komponist Sander Saarmets liefert den Sound.
Wir hören vom Meer, dass uns einst einhüllte
„Machen Sie es sich bequem, schauen Sie aus meinen Fenstern!“ lädt der Zug direkt ein. Wir verlassen gerade den Bahnhof Gmunden, die Sonne scheint ins Gesicht, die schneebedeckte Landschaft fließt vorbei, der Traunsee taucht auf und die Stimmen im Ohr erzählen von 200 Millionen Jahre altem Salz, von Riesenkraken, die einst in jenem Meer schwammen, das das Salzkammergut einhüllte und das nach seinem Verschwinden das weiße Gold hinterließ. So kam das Salz in die Berge, aber auch in unsere menschlichen Körper. „Wir sind in ihnen, und sie sind in uns“, sagt der Berg. Die Menschen scheinen es nur vergessen zu haben.
Ein meditatives Verschmelzen mit der Landschaft
Es ist eine meditative Reise, auf die das Projekt „Regional_Express“ die Fahrenden mitnimmt. Wunderbar funktioniert das Verschmelzen der akustischen Erfahrung mit der visuellen. Vor dem geistigen Auge entsteht dieses Meer, die real sichtbaren Berge verschwimmen und verschwinden darin. Dazu durchaus Informatives von Bewohnern der Gegend, die den See riechen können, wenn das Wetter sich ändert und von Gämsen berichten, die die atemberaubende Aussicht zu genießen scheinen.
Zwischen Ebensee und Bad Ischl wird der Ton ernster, berührende Berichte über Inhaftierte im Konzentrationslager Ebensee greifen das Thema der (fehlenden) Menschlichkeit auf ganz andere Art auf. Der Perspektivenwechsel funktioniert auch hier. Als einst die Inhaftierten aus den Zügen aussteigen mussten, war ihr Eindruck ein ganz anderer.„Er sieht die Berge und sieht keine Welt mehr.“
Den Verantwortlichen ist mit „Regional_Express“ gelungen, mit dem einfachen Mittel des Hörens das scheinbar Bekannte neu zu sehen und zu erleben, eine Möglichkeit, die Sie sich nicht entgehen lassen sollten.
Ab August 2024 wird das Projekt noch um ein Virtual-Reality-Erlebnis erweitert.
Von Mariella Moshammer