Ein Musical über eine junge Jüdin, die mit nur 22 Jahren im KZ Auschwitz umkommt — kann das gut gehen? Es kann! Den Beweis liefert jetzt der Musical Frühling in Gmunden mit der Produktion „Briefe von Ruth“.
Basierend auf den Tagebüchern der Jüdin Ruth Maier bis zum tragischen Ende im Jahr 1942. Das Publikum ist gefordert, vor allem, da es gilt, sich von gängigen Klischees des Genres Musical für zweieinhalb Stunden zu verabschieden. Die begeistert aufgenommene Welturaufführung war am vergangenen Freitag im Stadttheater Gmunden.
Von Wien nach Norwegen
Ruth Maier wird 1920 in Wien geboren. Auf ihre vorerst schöne Kindheit und Jugendzeit fallen die Schatten des aufkeimenden und immer brutaler werdenden Nationalsozialismus. Zu dieser Zeit beginnt Ruth, Tagebuch zu führen und damit entsteht ein Dokument der Beschäftigung mit ihrem Erwachsenwerden ebenso wie mit ihrer Zukunft, immer mehr aber mit den politischen Entwicklungen.
Die Tagebücher werden auf diese Weise zu wertvollen Dokumenten und sind zugleich eine infolge der dramatischen Geschehnisse nie erfüllte Verheißung auf ein großes Schriftstellerleben. Ruth flüchtet vor den Nazis nach Norwegen, verbringt dort eine Zeit der seelischen Zerrissenheit, einerseits unter der Fremde und der Isolation leidend, andererseits glücklich durch die Liebe zu der ebenfalls jungen Schriftstellerin Gunvor Hofmo. Doch die Tragödie ist nicht aufzuhalten, 1942 wird Ruth von den Nazi-Schergen abgeholt und bald darauf in Auschwitz ermordet. Was bleibt, sind die Tagebücher, die allerdings erst 1997 im Nachlass von Gunvor Hofmo entdeckt werden. Sie zählen heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Und in Norwegen ist Ruth Maier Teil des Schulunterrichts. Bei uns war sie bis jetzt wenig bekannt, hier leistet Gmunden wertvolle Pionierarbeit.
Keine Übertreibung
Die Musicalfassung der Norweger Gisle Kverndokk (Musik) und Aksel-Otto Bull (Libretto) bleibt bei diesen historischen Fakten. Das Publikum erhält nicht die Chance, zu sagen, „das ist halt Theater, das ist halt Übertreibung“. Die deutsche Fassung von Elisabeth Sikora erweist sich als einfühlsam und wird der Protagonistin in ihren existenziellen Kämpfen, Ängsten und auch Hoffnungen voll gerecht. Ein Satz aus Ruths Tagebuch: „Die Welt ist nicht schlecht. Denn wenn sie schlecht wäre, würde man fragen: wie kommt das Gute in die Welt?“
Regie und Bühnenbild von Markus Olzinger sind vergleichsweise einfach bis trist, aber gerade in dieser Einfachheit den Umständen adäquat. Geschicktes Requisiten-Management ermöglicht trotz unterschiedlicher Schauplätze einen nie langatmigen Handlungsablauf. Foto- und Videoeinspielungen im Hintergrund ergänzen das dramatische Geschehen.
Vielschichtige Musik
Vor allem aber: Es ist die Musik! Sie ist vielschichtig, von konzertant bis zu dramatischen Elementen. Gefühlvoll, romantisch und dann wiederum, passend zum Bühnengeschehen, Ausdruck einer entmenschten, verbrecherischen Ideologie. Bewusst verzichtet dieses Musical auf sonst übliche Songs und Highlights, die Musik stellt sich ganz in den Dienst der Tagebücher Ruths.
Das gilt vollinhaltlich auch für das Ensemble mit Jasmina Sakr als Ruth und Tamara Pascual als Gunvor Hofmo im Zentrum. Besonders gefordert sind die Darstellerinnen und Darsteller, weil alle mehrere Rollen zu bewältigen haben. Und das zu einem erheblichen Teil auch mit anspruchsvollem Sprechgesang.
Stehende Ovationen
„Briefe von Ruth“ in Gmunden findet inzwischen internationale Aufmerksamkeit. Zumal die Produktion in Kooperation mit der New York Opera Society erfolgte. Nicht überraschend, dass man bei der Weltpremiere und auch der weiteren Vorstellung am Samstag viel Englisch hörte. Zudem ist „Briefe von Ruth“ auch ein Referenzprojekt der „Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024“.
Das Premierenpublikum erwies den Verantwortlichen des Projekts und vor allem dem Ensemble jedenfalls mit langem Applaus und stehenden Ovationen die verdiente Anerkennung. Freilich, eine Hoffnung stirbt zuletzt: Dass nämlich all jene, die immer noch den Holocaust leugnen oder sich entsprechenden ideologischen Verirrungen hingeben, „Briefe von Ruth“ hören und sehen mögen.
Von Werner Rohrhofer