Landestheater Bregenz zeigt Neudeutung von „Fräulein Julie“

Gesellschaftliche Strukturen, die thematisierte Macht sowie die Geschlechterrollen verleihen August Strindbergs 1889 uraufgeführtem Trauerspiel „Fräulein Julie“ zwar Fragwürdigkeit, aber auch noch Attraktivität. Regisseurin Birgit Schreyer Duarte holt den viel gespielten Klassiker in die Gegenwart. Bei der Premiere am Donnerstagabend am Landestheater in Bregenz wurde zudem deutlich, wie gut sich die Genrebezeichnung Tragödie vermeiden lässt.

„Jean, Du wirst hier nicht mehr gebraucht“, lautet der letzte und wichtigste Satz in dieser behutsam adaptierten Stückfassung. Kristin, die Köchin im Haus des Grafen, spricht ihn aus. Der alte Mann ist gestorben, damit hat sich die Arbeit für Jean, seinen Pfleger und Diener erledigt, er kann gehen. Es sind erlösende und mehrdeutige Worte. Danach ruft Kristin nämlich nach Julie, winkt ihr, ist beim Erlöschen des Lichts im Begriff mit ihr gemeinsam die Bühne zu verlassen.

Die Grafentochter, die in der Mittsommernacht mit dem Diener ins Bett gestiegen ist, wird sich als zerrissene Person somit, wie oft zu sehen, nicht die Pulsadern aufschneiden. Und sie wird wohl auch nicht den Pillencocktail zu sich nehmen, den ihr Jean hier mit den Worten „Es gibt kein anderes Ende“ gereicht hat. Das gibt es doch: Männer wie Jean werden nicht mehr gebraucht. Was es braucht, ist Solidarität unter Frauen. Deshalb wird Kristin, jene Figur, die im Stück von Strindberg nur Skizze bleibt, in dieser Inszenierung aufgewertet. „Wir erachteten es als problematisch, eine junge Frau in den Suizid zu schicken, zu dem sie ein Mann anleitet“, erklärt Birgit Schreyer Duarte ihr Konzept und ihren Eingriff im Gespräch mit der APA.

Feudale Strukturen sind heute weitgehend Geschichte, aber auch in der Arbeitswelt gibt es Hierarchien. Jean ist nun mehr Betreuer als Diener des bereits schwerkranken Grafen, Kristin steht nicht nur am Herd, sondern überwacht den Haushalt, und die Unerfahrenheit von Julie könnte auch heute noch dazu führen, sich im Machtgefüge zu verstricken, das sexueller Anziehung und Begierde innewohnt. Schreyer Duarte sagt dazu: „Klar, bei Strindberg war die Frau dem Mann unterlegen. Das gilt so nicht mehr, aber wir können auch nicht sagen, dass es mittlerweile Gleichberechtigung gibt.“

Das Bühnenbild von Bartholomäus Martin Kleppek besteht aus luziden Wänden, drängt das Publikum aber nicht in die Rolle von Voyeuren. Schwüle Erotik, wie sie in Inszenierungen von „Fräulein Julie“ gerne bedient wird, bleibt außen vor. Alles ist clean, es gibt keine Exaltiertheit, kein Theaterblut, höchstens ein paar Tiermasken als zulässige Klischees in der Mittsommernacht.

Im facettenreichen Spiel von Rebecca Hammermüller eine Julie zu beobachten, die in der Situation zwar immer wieder überfordert ist, aber nie überspannt wirkt, ist wohltuend und trägt den Abend mit. David Kopp lässt erkennen, dass Jean in der Begegnung mit Julie nicht nur die männliche Machtposition des an sich Untergebenen und die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs auskostet, sondern dass sich in ihm gelegentlich echte Gefühle regen. Maria Lisa Huber verdeutlicht, dass Kristin innerhalb patriarchaler Strukturen zwar auch Macht ausüben kann, dass es aber dennoch besser ist, daraus auszubrechen.

Einmal ist es ein berüschtes Kleid, das Kristin trägt, einmal ist es ihr moderner Arbeitsanzug, den sich auch Julie am Ende über den gebauschten Rock streift, und am Bühnenrand stehen die blank geputzten Reitstiefel des Grafen. Kleine optische Verweise auf die Entstehungszeit des Stücks dienen der Plausibilität der hier in der Gegenwart angesiedelten Inszenierung, die August Strindberg geschickt zurechtweist. Die falsche Erziehung durch eine feministisch orientierte Mutter und ihr „degeneriertes Gehirn“ habe Julies Tragödie verursacht, schrieb der frauenfeindliche Künstler über sein Stück. Inhaltliche Eingriffe in das naturalistisch an sich gut gebaute Kammerspiel sind nicht nur berechtigt, sondern notwendig. Am Vorarlberger Landestheater gelingen sie souverän, entsprechend bedankte sich das Publikum.

(Von Christa Dietrich/APA)

„Fräulein Julie“ von August Strindberg. Inszenierung: Birgit Schreyer Duarte; Ausstattung: Bartholomäus Martin Kleppek; Musik: Oliver Rath. Mit Rebecca Hammermüller, Maria Lisa Huber und David Kopp. Weitere Aufführungen am 3. und 5. November, 27. und 31. Dezember, 30. Jänner und 1. Februar am Vorarlberger Landestheater in Bregenz: landestheater.org

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