Berichten zufolge ließ der neue Film von „Carol“-Regisseur Todd Haynes bei seiner Premiere in Cannes vor einem Jahr sein Publikum laut lachen. Ist er lustig? Das ist er. Aber man sollte sich von „May December“ wirklich keine Komödie erwarten. Es handelt sich bei diesem neckischen Moralstück, das ab Donnerstag in den heimischen Kinos läuft, um unangenehme Lacher, die einen zum Schaudern bringen.
Falsche Fährten und falsche Gefühle
Es dauert nicht lange, bis sich „May December“ als ein sehr spezieller Film herausstellt. Die unheilschwangere Musik im Vorspann bereitet die Bühne für ein Drama, das sich teils als Vintageerotikthriller und teils als selbstironische True-Crime-Seifenoper ausgibt. „Ausgibt“ deshalb, weil es ein Film voller falscher Fährten und falscher Gefühle ist. Nicht einmal dem Soundtrack kann man trauen. In der ersten Szene macht Julianne Moores Gracie den Kühlschrank auf. Dann Schockstarre. Die Kamera fährt in Moores Gesicht hinein. Bedrohliche Klaviermusik setzt ein, als wären wir in einem Thriller von Alfred Hitchcock gelandet. Dann schnauft sie: „Ich glaube nicht, dass wir genug Hotdogs haben.“
Lose auf wahrer Geschichte beruhend
Ganz schön frech, was Todd Haynes hier macht. Der amerikanische Regisseur von so wunderbaren Melodramen wie „Carol“ und „Dem Himmel so fern“ untermalt andere gewöhnliche Szenen auf ähnlich theatralische Weise, und doch ist es auch ein Film, der lose auf der wahren Geschichte der Sexualstraftäterin Mary Kay Letourneau beruht: Julianne Moore spielt Gracie, die, als sie 36 Jahre alt war, eine Affäre mit einem 13-Jährigen hatte. Weils sie im Hinterkammerl einer Tierhandlung beim Sex erwischt wurden, musste sie ins Gefängnis – und bekam hinter Gittern ihr erstes Kind von ihm. Das ist der Stoff, aus dem Boulevardträume gemacht sind.
Wir treffen Gracie und Joe („Riverdale“-Star Charles Melton) 20 Jahre später. Die beiden haben sich in einem kleinen Ort in Georgia ein scheinbar idyllisches Leben aufgebaut. Sie sind verheiratet, haben drei fast erwachsene Kinder und leben fröhlich in einem Haus am Meer. Ab und zu bekommen sie von Fremden ein Päckchen mit Fäkalien zugeschickt, was uns daran erinnert, das die Dinge so idyllisch nicht sein können, aber sie lieben sich. Das behaupten sie zumindest.
Das ändert sich alles mit der Ankunft von Elizabeth, einer Hollywoodschauspielerin im Menschenkostüm von Natalie Portman, die Gracie in einem neuen Indiefilm spielen soll. Während sie der Frau beim Backen und Einkaufen zusieht, beginnt sie, Gracie auf unheimliche Weise zu imitieren. Moore verwendet ein leichtes Lispeln in ihrer Stimme. Portman wiederholt es. Sie studieren sich gegenseitig. Eine macht der anderen etwas vor. Dabei hält Todd Haynes nicht nur den beiden Frauen buchstäblich immer wieder den Spiegel vor (Ingmar Bergman lässt grüßen), sondern auch sich selbst und dem Kino, dem er sein Leben gewidmet hat. Wer ist hier unmoralischer? Der Regisseur? Die Skandalnudel? Oder die Schauspielerin, die sie benutzt, um einen Oscar zu gewinnen?
Schauspielmatch zwischen Moore und Portman
Und während die Frauen sich ein Schauspielmatch liefern (sie sind beide großartig), ist am Ende der kindgebliebene Ehemann der Einzige mit den echten Gefühlen. In einer Reihe von herzzerreißenden Momenten, die Charles Melton wunderschön spielt, erleben wir, wie er beginnt, Fragen zu stellen. War er zu jung? Wurde er manipuliert? „Du hast mich verführt!“, schreit Gracie ihn an. Julianne Moore ist für Haynes seit langem eine Art Muse (es ist ihr fünfter gemeinsamer Film), und sie spielt das weinerliche Opfer ganz herrlich.
Das Gefühl des Kitsches wird durch die prickelnde Filmmusik noch verstärkt, die Haynes einem anderen Film entlehnt hat. Die Partitur von Marcelo Zarvos stammt eigentlich von Michel Legrands Musik für das Liebesdrama „Der Mittler“ aus dem Jahr 1971. Beide Filme drehen sich um verbotene Liebe, aber was noch wichtiger ist: beide Filme handeln von einem Kind, das zu jung ist, um zu verstehen, wie es manipuliert wird.
Von Marietta Steinhart