Das neue Nest der Wiener Staatsoper ist Anfang des Monats bewusst als Gegenbild zum Haupthaus eingeweiht worden. Ungewöhnliche Formate, einen jungen Zugang zum Genre Musiktheater soll die neue Bühne bieten. Da scheint es auf den ersten Blick verwunderlich, dass als Auftaktpremiere für Erwachsene eine „Götterdämmerung“ angesetzt ist. Aber keine gewöhnliche, wie der zweite Blick offenbart. Schließlich nimmt sich die queer-immersive Theatertruppe Nesterval Wagner zur Brust.
Ein Debüt für Haus und Formation
Es handelt sich dabei um das Operndebüt der 2011 gegründeten Kult-Theatercombo, die sich dabei gleich das vielleicht größte Bühnenwerk der Menschheitsgeschichte vorgenommen hat. Und doch entfaltete sich am Freitagabend nicht Wagners Finale der „Ring“-Tetralogie im Nest, sondern gleichsam eine „Götterdämmerung – The Day after“, ein genderfluides, klimakritisches Stück mit den „Ring“-Charakteren. Das ist dabei alles andere als ein Kinderstück, ist der interaktive Abend doch erst ab 16 Jahren freigegeben.
Wie bei Nesterval üblich, wird das Publikum dabei zu Begleitenden der einzelnen Figuren, teilt sich in Kleingruppen auf und geht auf Wanderschaft durch die jeweilige Theatersubwelt. Es ist ein Parcours, der über den bloßen Begriff des Stationentheaters weit hinausreicht. Nie bleibt der Besucher hier Betrachter, stets ist er Agierender, wird Mitspieler, tritt mit den Figuren in Interaktion. Insofern sind die Nesterval-Abende dem Ritual in gewissem Sinne näher als dem klassischen Theatersetting.
Man erfährt nur einen Ausschnitt
Die Folge: Viele haben bei Wagners „Ring“-Tetralogie ohnedies immer das Gefühl, sie bekämen nur die Hälfte mit. Bei der Nesterval-„Götterdämmerung“ ist dies definitiv der Fall. Zu zahlreich ist die Figurenschar, als dass man mit allen im Laufe des Abends auch nur kurz Kontakt haben könnte. Entsprechend ergeben sich je nach Wissensstand für die Gäste hie und da Logiklücken in der Narration, die ob der langen Entstehungszeit allerdings auch im Wagner’schen Mammutwerk selbst vorhanden sind.
Grundsätzlich spielt das Ganze im Wien des Jahres 2038. Die Herrschaft der Götter ist zu Ende, das Zeitalter des Menschen ist angebrochen. Dies bringt jedoch keine leuchtende Zukunft, sondern Gier und Zerstörung. Wasser ist das neue Gold, die Natur wird gnadenlos ausgebeutet. Es gibt die Profiteure und Intriganten, es gibt die Gutgläubigen und Idealisten. Und damit wären wir schon wieder erstaunlich nahe an der Wagner-Welt.
Wagner-Kosmos nicht weit
Je nachdem, auf welche Charaktere man sich fokussiert, fällt die Neuinterpretation stärker ins Gewicht oder auch nicht. In manchen Strängen überwiegt klar die Wagner-Welt. Hier werden letztlich sehr menschlich-stimmig die einzelnen Figuren innerhalb des „Ring“-Kosmos nachgezeichnet und ausgeweitet. Im genderfluiden Duktus erhalten Nebenfiguren größeres Recht, werden neue Perspektiven auf das Ende der Götter geworfen.
Wotan (Anne Wieben) und Erda (Christoph Wurmdobler) sind ein Mütterpaar, das neun Walküren-Brüder gezeugt hat, entsprechend sind Brünhild (Martin Walkner) und Sigfrid (Willy Mutzenpachner) ein Männerpaar. Die toughe Gottheit Donner (Laura Athanasiadis) gibt den Menschen Zunder, die drei Donautöchter Wellgunde (Marius Valente), Woglinde (Claudia Unterweger) und Floßhilde (Julia Fuchs) sind sich untereinander auch nicht grün, während Walküre Waltraude (Johannes Scheutz) mit dem drohenden Untergang der Götter und der Sturheit von Bruder Brünhild hadert. Und dazwischen irrlichtert man als Theatergast als Teil des Klimarats, pardon Menschenrats, der rationale Entscheidungen über die Zukunft treffen soll.
Logistische Meisterleistung
Immerhin kann man gedanklich immer wieder durchschnaufen, wenn sich die einzelnen Gruppen im Theatersaal versammeln, wo in Interludien ein Kammerorchester Motive aus der „Götterdämmerung“ intoniert. Dabei erstaunt wie stets die logistische Meisterleistung der Nestervals unter Mastermind Martin Finnland, denen es gelingt, ungeachtet des dezentralen Spielablaufs und der freien Improvisation als Wesenselement wie ein Uhrwerk pünktlich die einzelnen Kometen rechtzeitig auf eine gemeinsame Umlaufbahn einzuschwenken.
Der positive Nebeneffekt im Falle der Nest-Einweihung ist, dass damit das Haus im Ostflügel des Künstlerhauses in seiner Gesamtheit erschlossen, ein Blick in ansonsten nicht zugängliche Bereiche geworfen wird, wenn es vom Keller bis in den Workshopraum im Dach treppauf, treppab geht. Am Ende bleibt lediglich ein zentraler Malus: Man müsste eigentlich gleich wiederkommen, um den eigenen Horizont auf das Stück zu erweitern. Das Nest-Häkchen an der Sache: Die angesetzten Vorstellungen sind schon lange ausverkauft.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
„Nestervals Götterdämmerung“ mit Text von Teresa Löfberg & Richard Wagner im Nest, Wien 1, Karlsplatz 5, Inszenierung: Martin Finnland, Musikalische Leitung des Bühnenorchesters: Hartmut Keil, Bühne: Andrea Konrad, Kostüme: Sophie Eidenberger. Mit Erda – Christopher Wurmdobler, Wellgunde – Marius Valente, Woglinde – Claudia Unterweger, Floßhilde – Julia Fuchs, Wotan – Anne Wieben, Donner – Laura Athanasiadis, Loki – Rita Brandneulinger, Brünhild – Martin Walkner, Waltraude – Johannes Scheutz, Fasold – Stefan Pauser, Sigfrid – Willy Mutzenpachner, Gunther Gibichung – Gellert Gerson Butter, Krimhild (Gutrune) Gibichung – Eva Deutsch, Hagen Gibichung – Claudia Six, Alberich Nesterval – Alkis Vlassakakis, Mime – Laura Hermann, Urd – Martin Finnland. Weitere Aufführungen am 14., 16., 17. und 19. Dezember. nest.at