Nesterval macht Wagner im Nest: „Freunde werden wir keine“

Eines steht fest: Wenn die neue Spielstätte Nest der Wiener Staatsoper am 13. Dezember mit der „Götterdämmerung“ die erste Premiere für erwachsenes Publikum feiert, adressiert man nicht eingefleischte Wagnerianer, sondern ein Publikum, das gewöhnlich nicht die Klassiktempel flutet. Schließlich gestaltet die legendäre Theatergruppe Nesterval Wagners „Ring“-Finale mit dem ihr eigenen Ansatz des immersiven Theaters. So wird das neue Haus vom Dachstuhl bis zum Keller bespielt.

Dabei wird der Abend auch für die Nestervals eine Premiere, erkundete die Truppe rund um Mastermind Martin Finnland und Teresa Löfberg doch bis dato atheatrale Räume, die für die Werke neu erschlossen werden. Nun also ein „klassisches“ Theatergebäude, auch wenn der für die Staatsoper adaptierte Seitenflügel des Künstlerhauses auch in Zukunft ungewohnte Formate beherbergen soll. Die „Götterdämmerung“ jedenfalls, die nach der Kinderoper „Sagt der Walfisch zum Thunfisch“ von Thierry Tidrow am 7. Dezember gleichsam die neue Ära einläutet, wird in einem dystopischen Wien des Jahres 2038 spielen und das Publikum aktiv ins Geschehen mit einbeziehen.

Nesterval-Impresario Martin Finnland sprach mit der APA vor der Premiere über das Ende unserer Hochkultur, Lücken als idealen Nährboden und die nahende Weltherrschaft der Katzen.

APA: Nesterval hat bis dato ja nie in etablierten Theaterräumen gespielt, und jetzt ist es gleich die Staatsoper mit ihrem Ableger Nest geworden. Geht da ein Traum für Sie in Erfüllung?

Martin Finnland: Es kam zumindest wahnsinnig überraschend. Es war dieser eine, berühmte Anruf, der aber gewöhnlich nie kommt. Wobei ich selbst nie an die Staatsoper gedacht hätte – da hätte ich noch eher erwartet, dass sich vielleicht das Volkstheater mal meldet.

APA: Gezögert haben Sie gar nicht?

Finnland: Als Off-Gruppe, die immersives Theater macht, freut man sich zwar erst mal wahnsinnig, wenn sich die Staatsoper meldet. Aber dann kam tatsächlich gleich der Gedanke: Wollen wir das überhaupt? Und wie könnte das funktionieren? Die Idee einer immersiven Oper habe ich nämlich immer wieder auf die Seite gelegt. Aber natürlich war ich viel zu neugierig, um nicht zum Vorgespräch zu gehen, wenn man von der Staatsoper eingeladen wird.

APA: Wäre eine Nesterval-Produktion im Haupthaus für Sie auch vorstellbar gewesen?

Finnland: Ich hätte zumindest viel mehr gezögert. Ich schätze sehr, wie wir als Nesterval arbeiten, nämlich ohne große Kompromisse. Offtheater hat genügend Nachteile, aber eben auch den Vorteil eines wendigen Schnellbootes. Ich habe höchsten Respekt vor dem Repertoirebetrieb der Staatsoper! Aber für jemanden aus der Offszene klingt dieser riesige Personalapparat natürlich auch lähmend. Dann haben sie aber vom Nest erzählt, und das fand ich cool. Da gibt es den Mut zur Veränderung – und das könnte was Spannendes werden.

APA: Wenn die Anfrage vonseiten der Staatsoper kam: Ist Direktor Bogdan Roščić ein langjähriger Fan von Nesterval?

Finnland: Er hat von Anfang an klargestellt, dass er das Projekt zwar sehr spannend findet, aber sich noch wenig vorstellen kann darunter, weil er noch keine Arbeit von uns gesehen hat. Ich habe dann darauf bestanden, dass er sich eine Aufführung von „Die Namenlosen“ anschaut. Er wollte erst nur eine Stunde bleiben, war dann aber die ganzen dreieinhalb Stunden da. Und danach war klar: Das wird was.

APA: Wie sahen die Vorgaben für Nesterval aus?

Finnland: Ich war komplett frei. Die einzige Vorgabe war, dass es im Nest sein und Musik beinhalten soll. Und Nesterval soll spürbar sein. Und ich dachte mir: Wenn man schon in den Olymp eingeladen wird, dann antworten wir darauf mit der „Götterdämmerung“.

APA: Wie ist dabei Ihr Ansatz an den Abend: Will Nesterval das System von innen unterwandern? Oder passen Sie sich an die Gegebenheiten an?

Finnland: Es funktioniert sehr gut als Koexistenz. Die Staatsoper ist und bleibt die Staatsoper, zeigt aber im Nest, dass es da ein junges Team gibt. Wir erzählen tatsächlich die „Götterdämmerung“ als das größte deutsche Epos, aber immer unter der Prämisse, was das für Nesterval heißen würde. Wie kann man diesen epischen Stoff greifbar und nachvollziehbar machen? Wagner würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen. Aber wir wollen ja nicht konkurrieren, sondern einen Zugang für ein Wagner-fernes Publikum eröffnen. Als ich selbst das erste Mal den „Ring“ durchgelesen habe, muss ich gestehen: Ich habe ihn nicht verstanden. Es gibt wahnsinnig viele Lücken, die zu füllen uns Spaß gemacht haben. Denn genau das ist für uns natürlich der beste Nährboden. Welche Charaktere sind im Stück? Was bewegt sie? Was wollen sie? Nicht zuletzt dann, wenn sie gerade keine große Szene haben…

APA: Welche Rolle spielt die Musik in Ihrer „Götterdämmerung“?

Finnland: Wir spielen immer mit Musik in unseren Stücken. Man kann die Schönheit an der „Götterdämmerung“ auch dann entdecken, wenn man das Stück nicht in einem Rutsch durchhört, sondern wenn man gewisse Passagen rauspickt. Dann ergibt das alles Sinn. Die Frage war aber immer, wie man mit der Musik umgeht. Wir machen letztlich Sprechtheater. Im Nest arbeiten wir deshalb mit dem Bühnenorchester zusammen, das eine große Flexibilität an den Tag legt. Wir wollen schließlich das gesamte Haus bespielen.

APA: Wird dabei ausschließlich Wagner erklingen?

Finnland: Es ist viel Wagner dabei, aber nicht nur aus der „Götterdämmerung“. Wenn man Siegfried folgt, kann es passieren, dass man in einem Club am WC mit „Walküren“-Techno-Remix landet oder Waltraute mit einem Lied Faber zitiert. Es gibt für mich keinen Zwang, mich musikalisch in die Schranken zu weisen. Ich darf auch ausbrechen.

APA: Wie geht es Ihnen mit der Person Richard Wagner?

Finnland: Freunde werden wir keine werden. So ehrlich muss ich sein. Ich sehe die Schönheit in der Musik – das will ich mir von ihm mitnehmen. Das ist kein Widerspruch dazu, dass man alles drumherum sehr kritisch sehen kann.

APA: Wie sehr setzen Sie auf Humor in Ihrer Deutung?

Finnland: Unsere Ausgangslage ist eine sehr düstere. Wir spielen im Wien des Jahres 2038 – nach den Wasserkriegen. Wir haben bei Corona gesehen, wie schnell eine Gesellschaft in Schieflage geraten kann. Wenn das Wasser knapp wird, kann das Ganze sehr schnell kippen. Da sind wir nicht gefeit davor. Wir stehen am Ende einer Hochkultur. Warum soll es uns besser gehen als den Griechen oder Römern? Und dieser Umstand passt natürlich gut zur „Götterdämmerung“. Aber die Welt ist nie schwarz-weiß. Man kann immer schöne Momente im Leben haben. Das haben wir auch in die „Götterdämmerung“ eingearbeitet.

APA: Das heißt, einen kleinen Hoffnungsschimmer des Optimismus lassen Sie auch für die Götterdämmerung zu?

Finnland: Es heißt ja „Der Ring“ – das Ganze ist also rund und in sich endlos. Nach einer „Götterdämmerung“ kommt irgendwann wieder „Das Rheingold“. Das heißt, das Ende ist auch nicht das Ende. Und ich bin privat ja ein riesiger Optimist! Wenn ich keiner wäre, gäbe es Nesterval wohl auch vermutlich nicht. Mir wird nachgesagt, ich sei verrückt, aber am Ende funktioniert’s. Wer weiß, was nach dem Ende der Menschheit kommt? Vielleicht die Weltherrschaft der Katzen.

APA: Bevor es soweit ist: Ist „Die Götterdämmerung“ für Nesterval eine Art Versuchsballon? Gibt es gar Pläne für ein eigenes fixes Haus?

Finnland: Die Möglichkeit zu haben, Stücke längere Zeit zu spielen, wäre wahnsinnig reizvoll für uns! „Die Namenlosen“ erzählt etwa die Geschichte der Verfolgung queerer Menschen im Nationalsozialismus, was ich für sehr wichtig halte. Ich möchte keine Halle haben, damit da Nesterval oben steht. Aber wenn ich einen Standort haben kann, um dort aktiv Aufklärung über den Nationalsozialismus zu betreiben, um dort zum Beispiel dieses Stück länger zu zeigen – sofort. Ohne Wenn und Aber.

(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)

„Nestervals Götterdämmerung. Ein immersiver Opernabend“ im Nest, Karlsplatz 5, 1010 Wien, Musikalische Leitung: Jendrik Springer, Künstlerische Leitung/Inszenierung: Martin Finnland, Text/Dramaturgie Teresa Löfberg, Dramaturgie: Tove Grün, Bühne: Andrea Konrad, Kostüme: Sophie Eidenberger, Ton: Alkis Vlassakakis. Premiere am 13. Dezember. Weitere Aufführungen am 14., 16., 17. und 19. Dezember. nest.at

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