Eine Puppe, ein Püppchen ist Bella (fantastisch: Emma Stone), wie sie uns da in „Poor Things“ entgegenstolpert. Ihre Schritte sind ungelenk, man sucht direkt den Aufziehschlüssel in ihrem Rücken und die Spieluhr, von der sie gefallen ist.
Doch Bella Baxter ist kein künstliches Wesen, sondern die Mischung aus Frau und Säugling, Mutter und Kind. Ihr Schöpfer, der Chirurg, Pathologe, Wissenschafter und Forscher Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) — kurz God — hat sie zusammengebastelt, ganz wie einst Victor Frankenstein aus Mary Shelleys Feder.
God nahm den Körper einer Frau, die sich in selbstmörderischer Absicht in die Themse gestürzt hatte und pflanzte ihr das Gehirn ihres ungeborenen Babys ein, Strom belebte das „Monster“. Mit entdeckerischem Interesse beäugt er nun die Menschwerdung seiner Bella. Und auch wenn er nicht ihr biologischer Vater im herkömmlichen Sinne ist, scheint God ihr das Entdeckergen mitzugeben, denn Bella will bald dem engen Korsett des Zuhauses entfliehen, und nachdem sie ihren Körper bereits auf sehr Glück bringende Weise erforscht hat, nun dies mit der Welt machen.
Ohne Vorurteile, weil ohne Erinnerungen
Ohne Vorurteile, weil ohne Erinnerungen, betritt Bella den Raum außerhalb des gruselig-herrschaftlichen Hauses. Und die Welt der fleischlichen Zweisamkeit. Ihren Liebhaber Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) fragt sie, warum man das nicht die ganze Zeit mache. Er rät ihr, sich nicht in ihn zu verlieben — und tut es dann natürlich selbst.
Die hübsche Puppe, der man die Welt erklären kann und die ihre Sexualität ebenso gerne erforscht, wie ungehemmt auslebt — zum Zugreifen. Doch recht rasch will Bella nicht mehr den Mann ihre Grenzen bestimmen lassen, und das missfällt Mr. Wedderburn, der jedoch schwerlich von Bella lassen kann. Aber mit einer Puppe mit Gehirn spielt es sich nicht mehr so einfach.
Die Männer sind Beiwerk in Yorgos Lanthimos „Poor Things“, der u.a. in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, Emma Stone bekam kürzlich den Golden Globe für ihre Darstellung der Bella. Gleichförmig sind die Herren jedoch nicht. God ist selbst Werk seines absurden Vaters, der den Sohn für Experimente missbrauchte. Bellas Verlobter Max McCandless (Ramy Youssef) hat Potenzial zum ebenbürtigen Partner, Wedderburn eignet sich als Liebhaber — für ernsthafte Gespräche sucht Bella sich schnell Geeignetere. Später taucht dann noch ein Ex auf, dessen spezielles Talent weit unten zu finden ist, Stichwort Gras.
Es ist ein wunderbares Universum, das Yorgos Lanthimos mit „Poor Things“ geschaffen hat. Optisch phänomenal, inhaltlich ebenso unterhaltsam wie fordernd, leicht und tiefgründig. Emma Stone ist in diesem Film, der wie ein riesiges Plädoyer zur Ermächtigung von Mädchen und Frauen funktioniert, die ideale Besetzung, eine andere ist schlicht nicht vorstellbar. Unvorhersehbar, knallhart, direkt und unverhohlen lässt der griechische Filmemacher seine Bella agieren, die Welt entdecken und sie für sich perfekt formen. Wären wir wieder im „Barbie“-Universum, müsste ein neues Spielzeug erfunden werden, das es mit Bella Baxter aufnehmen könnte. Starke Empfehlung!
Von Mariella Moshammer