Gekaufte Demonstranten in Russland, Singles beim Orangentanz. Die gebürtige Russin Anna Jermolaewa setzt sich in ihren Arbeiten mit politischen, aber auch gesellschaftlichen und sehr persönlichen Themen auseinander.
Das Linzer Schlossmuseum zeigt unter dem Titel „Number Two“ (bis 5. März 2023) die bisher größte Werkschau der Künstlerin, die an der Linzer Kunstuni unterrichtet, mit Arbeiten aus den letzten 25 Jahren. Beim Presserundgang lernte man eine sympathische, politisch und zwischenmenschlich engagierte Künstlerin kennen, die, nach oft aufwendiger Recherche, in fotografischen Arbeiten, Videos und Installationen Positionen und Situationen klar macht. Eine großartige Ausstellung, die „von außerordentlicher aktueller Relevanz“ sei, wie Kuratorin Gabriele Spindler betonte.
1970 in St. Petersburg geboren, flieht Regimekritikerin Jermolaewa 1989 nach Österreich. Am Wiener Westbahnhof übernachtet sie mehrere Nächte. Das greift sie Jahre später in einem Video („research for sleeping positions“) auf. Die ebenfalls sehr persönliche Arbeit „Gender Benders“ zeigt ihre damals fünfjährige Tochter und ihre genderstereotypen Spielsachen.
Konformismus und bezahlter Widerstand
Um Manipulation, gesellschaftliche Mechanismen geht es in der Installation aus nummerierten Leuchtröhren. „Number Two“ basiert auf einem Experiment, bei dem die Probanden die beiden gleich langen Röhren identifizieren sollten. Unter dem Einfluss von Schauspielern legten sie sich auf die falschen fest, hielten dem Druck der Gruppe nicht stand. Ähnliches zeigen ebenfalls optisch sehr ansprechend zwei Pyramiden („Both White“), eine schwarz, eine weiß. Als Inspiration ein — gescheitertes — Experiment in der Sowjetunion, mit dem bewiesen werden sollte, dass sich im Sozialismus groß gewordene Menschen nicht anpassen.
Auf mehreren Bildschirmen Doubles von Gorbatschow, Stalin, Lenin oder Putin an verschiedenen Orten in Moskau. Gorbatschows Nachahmer lässt seine Verkleidung nach dieser Nebenbeschäftigung verschwinden, zu groß ist die Angst vor Repressalien. Stalins Double hingegen werde heute sogar an Schulen geholt, so die Künstlerin, für einen jungen Mann im Video ist er ein Held. „Putin hat die Stalin-Kultur wieder aufgebaut.“
In Russland kann man auf einer Plattform Demonstranten buchen: Jermaloewa hat das getan und sie in Moskau für ihre videodokumentierte Aktion „Political extras“ mit Schildern pro und kontra Kunst auf die Straße geschickt. „Manipulation, die man schwarz auf weiß zeigen kann“, so die Künstlerin. Ähnliches passiere heute mit bezahlten Fans bei der Fußball-WM, ergänzt Spindler.
Rattenjäger in der Petersburger Eremitage
Katzen sind als Rattenjäger fixe „Mitarbeiter“ in der St. Petersburger Eremitage: Hinter den Porträts von unzähligen der Felltierchen („Hermitage Cats“), die in dem Museum leben, steckt ein ernster Blick in die Vergangenheit. Nach der 900-tägigen Belagerung der Stadt — damals Leningrad — durch die deutsche Wehrmacht 1944 waren praktisch alle Katzen von der hungernden Bevölkerung aufgegessen. In großen Zügen wurden gleich nach dem Krieg Katzen aus Sibirien in die Stadt gebracht – diesmal als Haustiere, so Anna, deren Großmutter die Blockade überlebt hat.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg Schallplatten vor allem aus dem Westen in der Sowjetunion ein rares Gut waren, hat ein findiger Russe die begehrte Musik auf Röntgenaufnahmen gepresst. Jermolaeva präsentiert sie wieder wie Röntgenbilder.
Als wichtige Arbeit bezeichnet die Künstlerin „Single-Party“ (2006). Selbst damals Single, lud sie ebensolche in ihr Atelier, wo sie sich beim „Orangentanz“ (eine Orange zwischen den Köpfen balancierend und von Jermolaewa gefilmt) kennenlernten: Daraus seien auch echte Beziehungen entstanden. „Was kann besser sein für einen Künstler, als gesellschaftlich wirklich etwas zu bewegen“, sagt die Künstlerin.
Berührend, kontemplativ und stark „Singing Revolution“, das im Sommer entstanden ist: Drei riesige, raumfüllende Bildschirme zeigen Chöre aus Estland, Lettland und Litauen, Protestlieder singend, die in der Zeit der Loslösung von der Sowjetunion den Menschen viel bedeutet und geholfen haben. „Die Leute im Baltikum haben heute wieder Angst vor Putin.“
Von Melanie Wagenhofer