Überirdische Literatur: „Umlaufbahnen“ von Samantha Harvey

Überirdische Literatur. Im Fall des Romans „Orbital“ von Samantha Harvey ist diese Bezeichnung nicht nur ein Qualitätsurteil, sondern auch eine Inhaltsangabe. Das Buch, das vor wenigen Tagen mit dem mit 50.000 Pfund dotierten Booker Prize ausgezeichnet wurde, spielt im Weltraum. Genauer gesagt in der Raumstation ISS, in der zwei Frauen und vier Männer alle 90 Minuten die Erde umkreisen. „Umlaufbahnen“ heißt das Buch in deutscher Übersetzung. Die Kritiken sind galaktisch.

Vier Astronauten und zwei Kosmonauten (auf die Absurdität dieser Trennung wird nur in einer kurzen Episode Bezug genommen) schweben durch ihre Arbeits- und Schlafstätte, die aus ihren Luken den denkbar besten Ausblick bietet: jenen auf den Planeten Erde. 16 tägliche Umlaufbahnen bedeuten 16 Sonnenaufgänge in 24 Stunden. Im All herrscht ein anderes Zeit- und Raumgefühl. Wie gut dieses von der Autorin, die ihr Buch in die 16 Umlaufbahnen eines Tages gliedert, eingefangen wurde, ist ganz erstaunlich.

„Orbital ist kompakt und doch wunderschön ausgedehnt und lädt uns ein, die Pracht der Erde zu betrachten und gleichzeitig über den individuellen und kollektiven Wert jedes menschlichen Lebens nachzudenken“, befand die Booker-Preisjury, und ihr Vorsitzender Edmund de Waal nannte es bei der Preisgala „ein Buch über eine verwundete Welt“. Tatsächlich könnte die Diskrepanz nicht größer sein: Aus der Ferne wirkt der Planet bei Tag faszinierend rein und unberührt, bei Nacht lassen sich anhand der Lichter die von Menschen bewohnten Regionen ausnehmen – wie eine Krankheit, die sich über die Erdoberfläche ausbreitet, verstörend und schön zugleich.

„Ich dachte an eine Weltraumpastoral – eine Art Nature Writing über die Schönheit des Weltraums“, beschreibt die 49-jährige Autorin, die schon mit ihrem Debütroman „Die Wildnis“ (2009) auf der Longlist für den Booker Prize stand, ihre Intentionen. Diese Schönheit nimmt der aus fünf Nationen zusammengewürfelten Crew auch nach Wochen noch beinahe täglich den Atem – während draußen die Steuerraketen selbsttätig und nahezu unmerklich kleine Kurskorrekturen vornehmen, um Hindernissen auszuweichen. Die Menschheit hat es geschafft, innerhalb weniger Jahrzehnte den Weltraum zuzumüllen: 200 Millionen Einzelteile menschlichen Ursprungs sausen mit einer Geschwindigkeit von 40.000 Stundenkilometern um die Erde.

Die Fakten stimmen wohl, bedankt sich Harvey am Ende doch bei NASA und ESA „für die Fülle der zur Verfügung gestellten Informationen“. Diese Faktenfülle belastet die in der Beschreibung von Eindrücken und Gefühlen so schwerelosen Erzählung eines ISS-Tags ein wenig. Samantha Harvey lässt die Besatzung immer wieder an die Geschichte der Raumfahrt zurückdenken, von der ersten Mondlandung bis zur Challenger-Katastrophe, und sie konfrontiert sie auch mit einer gleichzeitig startenden Mond-Mission, die, anders als die unaufhörlich kreisende Raumstation, mit geballter Kraft ein konkretes Ziel ansteuert. Auch Astronauten kennen im beruflichen Umgang alle Abstufungen – von Kollegialität bis Neid.

Während Alltagsroutine, Reparaturarbeiten und die penible Abarbeitung der Experimente das Leben an Bord bestimmen, wird unten auf der Erde Politik gemacht, stirbt die Mutter einer Astronautin, braut sich vor den Philippinen ein riesiger Taifun zusammen, der von der ISS aus besorgt beobachtet und fotografiert wird. Die Menschen, die den Planeten über Jahrtausende ausgebeutet und ihm ihren Stempel aufgedrückt haben, sind diesen Kräften hilflos ausgeliefert. „Wie schreiben wir die Zukunft der Menschheit?“ Diese Frage soll einer der Astronauten für eine Zeitung beantworten. „Wir schreiben gar nichts“, denkt er. „Sie schreibt uns. Wir sind vom Wind aufgewirbeltes Laub.“

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

„Umlaufbahnen“ von Samantha Harvey, Aus dem Englischen von Julia Wolf, dtv, 224 Seiten, 22,70 Euro

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