Ukrainischer Autor Andrej Kurkow: „Bin schwarzer Optimist“

Das Wiener Gratis-Buch ist heuer der 1996 erschienene Roman „Picknick auf dem Eis“ des Ukrainers Andrej Kurkow. Im Rahmen der Aktion „Eine Stadt. Ein Buch.“ werden ab heute, Dienstag, 100.000 Exemplare in ganz Wien verteilt. Die Buch-Gala findet um 19 Uhr im Wiener Rathaus statt. Schon in der Früh gab der 1961 im damaligen Leningrad geborene Autor der APA ein Interview über sein Buch, die damaligen Schreibumstände und die heutige Lage in der Ukraine, am 1.000 Tag des Krieges.

Im Zentrum von „Picknick auf dem Eis“ steht der erfolglose Autor Viktor, der im turbulenten Kiew der 90er-Jahre lebt und sich nach einer gescheiterten Beziehung um den Pinguin Mischa kümmert, dessen weitere Betreuung der städtische Zoo aus Kostengründen aufgegeben hat. Viktors einzige Einnahmequelle sind Nachrufe noch lebender Prominenter, die er für eine große Tageszeitung verfasst. In der Stadt nimmt die Gewalt zu – und immer mehr Menschen, deren Nachrufe Viktor bereits verfasst hat, sterben.

APA: Herr Kurkow, unser Gespräch wird um zwei runde, große Zahlen kreisen. 1.000 Tage ist es heute her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, und 100.000 Exemplare Ihres Buches „Picknick auf dem Eis“ werden ab heute in Wien verteilt. Lassen Sie uns mit der größeren Zahl beginnen, die ja auch die erfreulichere ist. Obwohl: Schmerzt das einen Autor nicht auch ein wenig, wenn seine Bücher gratis verteilt werden? Bücher sollen ja einen Wert darstellen …

Andrej Kurkow: Es stimmt, ich hatte auch ein bisschen Zweifel, aber die Hälfte der Menschen, die sich jetzt mein Buch holen werden, kauft sonst vielleicht keine Bücher – und die andere Hälfte freut sich darüber, dass sie nach vielen Jahren des Kaufens endlich mal ein Buch geschenkt bekommt. 100.000 Leserinnen und Leser sind jedenfalls eine große Zahl, die mich sehr freut. Bei den deutschen Übersetzungen meiner Bücher ist die Erstauflage meist 30.000. In der Ukraine ist die Auflage viel kleiner. Bei uns haben auch die bekanntesten Schriftsteller meist Erstauflagen von 1.000 bis 3.000 Exemplaren.

APA: „Picknick auf dem Eis“ haben Sie 1995 geschrieben. Es war damals eine ganz andere Welt. Wenn Sie sich zurückerinnern: Was fällt Ihnen spontan ein?

Kurkow: Mein erster Gedanke dazu ist: Pinguin Mischa ist älter als meine Kinder. Es war eine sehr komplizierte Zeit, eine Zeit von Instabilität, Kriminalität und Gefahr auf der Straße. Natürlich war ich da noch viel jünger, und ich konnte das alles dank meiner Frau und meinen Freunden überleben. Aber seither lebte ich in drei, vier verschiedenen Ukrainen. Das Buch gehört in die erste postsowjetische Ukraine, die sehr instabil war, und wo es nicht klar war, welches Land das ist. Ende der 1990er gab es dann mehr Stabilität, und die Ukraine lernte, ohne Zensur zu existieren. Das war sehr wichtig für mich: Als Autor konnte man alles, was man dachte, auch schreiben. Nur für Journalisten war das gefährlich. Es kam zu einer Wiedergeburt der ukrainischen Literatur auf Ukrainisch. Anfang der 2000er führte dann die Korruption in der Umgebung des Präsidenten Leonid Kutschma zur Orangenen Revolution. Zuerst regierte das Gefühl der Gefahr, dann die Freude über den Sieg der Revolution. Aber die Erwartungen waren zu groß. Unter dem prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch kam es zur Stagnation. Er wollte nicht, dass sich die Ukraine dem Westen annähert. Seit dieser Zeit herrscht Unruhe: Vom Euromaidan über die Annexion der Krim, über den Beginn des Kriegs im Donbass bis zum heutigen Krieg mit abertausenden Toten.

APA: Angesichts dieser turbulenten Entwicklung haben Sie ein politisches Buch nach dem anderen geschrieben. Repräsentiert „Picknick auf dem Eis“ mehr das, was Sie ursprünglich als Autor wollten?

Kurkow: Ja, denn ich hatte Mitte der 1970er mit Prosa begonnen, als Autor von Witzen. Das war beeinflusst von meinem älteren Bruder. Er war Dissident und hat sich mit seinen Freunden in unserer kleinen Küche, als ich 13, 14 war, immer wieder politische Witze erzählt. Das hat mich sehr beeindruckt, denn ich hatte vorher immer nur Gedichte geschrieben. Also hab ich umgesattelt – und mit meinem Bruder an illegalen Witze-Wettbewerben teilgenommen. Einmal hab ich dabei sogar sechs Flaschen Krimsekt gewonnen.

APA: Ist einem ukrainischen Autor in den vergangenen Jahren nicht das Lachen vergangen?

Kurkow: Ich versuche immer, den Humor nicht zu verlieren. Ich bin ein pathologischer Optimist. Obwohl: Zweimal habe ich in den vergangenen Jahren wirklich den Humor verloren: Anfang 2014, als über 100 Leute auf dem Maidan erschossen wurden, und beim russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Mein Humor hat sich verändert. Ich liebte immer schwarzen Humor – jetzt ist er manchmal grau. Und ich habe weniger Ironie in meinen Gedanken. Ich hab einmal gegenüber Freunden gemeint: Ich bin ein schwarzer Optimist. Das ist jemand, der glaubt, dass alles gut enden wird, aber nicht sicher ist, ob er es noch erleben wird.

APA: In den ersten Tagen des russischen Angriffs haben Sie Kiew unter dramatischen Umständen verlassen. Wo und wie leben Sie heute?

Kurkow: Wir leben in Kiew. Wir haben jetzt zwei Tage gebraucht, um nach Wien zu kommen. Die Kinder sind dort geblieben, und heute und gestern ohne Strom. Manchmal fahren meine Frau und ich aufs Land, wo wir eine Autostunde von Kiew entfernt ein Haus haben. Dort ist es einfacher zu arbeiten, denn in Kiew kann man nicht schlafen: Die ganze Nacht gibt es Explosionen, Drohnen und Sirenen. Seit zweieinhalb Monaten geht das so. Am Land kann ich am Morgen ausgeruht am Computer sitzen.

APA: 1.000 Tage Krieg – sind Sie auch kriegsmüde wie viele andere? Sehnen Sie sich danach, sich endlich wieder Ihren normalen literarischen Projekten zu widmen?

Kurkow: In dieser Situation ist es sehr schwierig, an Prosa zu denken, aber tatsächlich habe ich vor zwei Wochen es geschafft, meinen lange unterbrochenen Roman zu beenden. Zweieinhalb Jahre lang habe ich fast nur Tagebücher, Essays und Artikel geschrieben. Aber die intellektuelle Gesellschaft der Ukraine kämpft weiter. Es gibt kaum Stimmen, die sofortige Friedensverhandlungen mit Putin fordern. Die Mehrheit versteht, dass Putin auch bei einem Waffenstillstand nur die Pause nutzen wird, um sich für später zu rüsten und dann weiterzumachen. Er hat schon oft gesagt, dass die Ukraine kein Recht hat, als unabhängiges Land zu existieren. Wir haben also keine Wahl! Aber natürlich glauben das nicht alle sieben Millionen Ukrainer, die ins Ausland geflüchtet sind. Es gibt welche, die Verhandlungen fordern und sich mit künftigen Schutzgarantien der NATO zufriedengeben würden.

APA: Trump hat erklärt, dass er als US-Präsident den Ukraine-Krieg innerhalb eines Tages beenden werde. Ist das nur Gerede, oder fürchten Sie sich vor den Plänen, die er tatsächlich haben könnte?

Kurkow: Für die Ukraine wird es dramatisch und kompliziert. Trump weiß selbst nicht, was er im Jänner machen wird, denn Putin ist nicht bereit, seine Ideen zu akzeptieren. Also muss Trump dann einen Schuldigen suchen, warum er es nicht geschafft hat, innerhalb von 24 Stunden Frieden zu bringen. Wenn er Selenskyj dafür verantwortlich macht, wird es tragisch für die Ukraine. Dann bleiben nur Europa, Japan und Kanada als Unterstützer der Ukraine übrig.

APA: Viele sagen, man muss Putin mit Härte begegnen, denn sonst ist die Ukraine nur der Anfang einer Umsetzung umfassender Expansionsgedanken. Sehen Sie das auch so?

Kurkow: Der Krieg wird auf drei Ebenen geführt: Er ist ein Kampf um Territorien: Putin will sich die Ukraine als russisches Territorium einverleiben. Auf einer zweiten Ebene ist es ein Kampf gegen die ukrainische Identität – die Sprache, die Geschichte und die Kultur sind mit diesem Territorium verbunden. Auf dritter Ebene ist es ein Kampf autoritärer Regime wie Nordkorea, Iran und Russland gegen die demokratische Welt. Wenn die Ukraine verliert, werden die autoritären Regime eine neue Weltordnung organisieren.

APA: In „Picknick auf dem Eis“ sind auch die unterschiedlichen Mentalitäten von Ukraine und Russland ein Thema.

Kurkow: Die traditionelle ukrainische Mentalität ist anders. Die Russen sind Kollektive, die Leute sind normalerweise politisch passiv und bereit, Befehle von oben zu befolgen. Das ist Resultat von 1.000 Jahren Monarchie: Die Leute akzeptieren den Zar – oder sie töten ihn und warten auf den nächsten Zaren. Das ist in der Ukraine anders. Das war ein Kosaken-Territorium, und deren Führer waren gewählt. Das war eine Art von Demokratie mit Elementen von Anarchie. Die Leute in der Ukraine wissen also: Sie können die Dinge im Staat beeinflussen. Das Resultat ist eine Gesellschaft von Individualisten, wo jeder, der will, seine eigene Partei gründet. Wir haben heute über 400 politische ukrainische Parteien registriert. Für Ukrainer ist Freiheit wichtiger als Stabilität, für Russen ist Stabilität wichtiger als Freiheit.

APA: Diese beiden Mentalitäten repräsentieren der Pinguin Mischa und der Autor Wiktor.

Kurkow: Es ist eine Metapher über zwei unnatürliche Einsamkeiten: ein postkollektiver, postsowjetischer Mensch, Wiktor, der versucht, alleine zu überleben, und der Pinguin als Kollektivwesen von Natur. Wenn man ihn separiert, verliert er die Orientierung.

APA: Stimmt es, dass Ihr großartiges Deutsch mit diesem Buch seinen Anfang genommen hat?

Kurkow: Ja, 1997 hatte ich, nachdem ich jahrelang unzählige Manuskripte vergeblich an westliche Verlage geschickt hatte, eine positive Antwort von Diogenes bekommen und war nach Zürich eingeladen. Der Verleger Daniel Keel hat mir dann geraten, Deutsch zu lernen. Ich hab dann über Vermittlung des Goethe Instituts Kiew dreieinhalb Wochen am winterlichen Chiemsee verbracht und dort begonnen, Deutsch zu lernen. Bei meinen ersten Lesungen in Deutschland im März 1999 konnte ich meine Texte schon auf Deutsch vorlesen – verstand aber nicht, was ich da las …(lacht)

APA: Als Liebhaber des schwarzen Humors: Ist an Ihnen auch ein potenzieller Wiener verloren gegangen?

Kurkow: Ich liebe Wien. Ich habe vor zehn Jahren hier mal drei Monate verbracht. Schon vorher war Georg Kreisler einer meiner Lieblingschansonniers. Jedes Mal, wenn ich hierher komme, höre ich im Kopf sein berühmtes Lied: „Wie schön, wäre Wien ohne Wiener …“

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

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