Ein schauriges Ballett bot sich gestern Abend in der Wiener Staatsoper. Ein König zerstört vor Eifersucht seine Familie, ein Baby wird ausgesetzt, eine Statue erwacht zum Leben. Solche Dinge erfordern keine zierlichen Bewegungen und keine Tutus. Christopher Wheeldons bildmächtiges Shakespeare-Ballett „Winter’s Tale“ ist ein expressionistisches Ballett voller stechender Tritte mit einer neutestamentarischen Botschaft am Ende. Klanglich schräg. Dem Premierenpublikum gefiel’s.
Es ist dunkel auf der Bühne im Haus am Ring, und nur Brendan Saye tanzt um erotische antike Statuen. Mit dem Ersten Solisten streckt sich der sizilianische König Leontes wie eine Spinne aus. Beeindruckend reißt der Kanadier seine Gliedmaßen auseinander. Seine gespreizten Finger kriechen an seinem Körper hinauf. Seine Bewegungen sind stachelig – alles, um den Wahnsinn zu veranschaulichen, dem seine Figur im ersten von drei Akten verfällt. Der König redet sich ein, dass das ungeborene Baby seiner Frau Hermione (eine wunderbare Hyo-Jung Kang) nicht seins sei, sondern das seines Freundes Polixenes (Masayu Kimoto), dem König von Böhmen.
William Shakespeare verwendete in seinem 1611 uraufgeführten Text das Bild einer Spinne als Metapher für das Böse, das Leontes zu sehen glaubt, und der englische Starchoreograf Christopher Wheeldon hat dieses Bild in eine verkrampfte Hand übersetzt, mit der sich die Eifersucht ihren Weg durch den Körper des Tänzers bahnt. Der Komponist Joby Talbot („Alice im Wunderland“) steuert einen gewaltigen Soundtrack bei, der eher filmisch als klassisch „balletthaft“ klingt: mal Alfred Hitchcock, mal Leonard Bernstein, mal orientalisch.
Ein sinnlicher Pas de deux zwischen Hermione und Polixenes wird, sobald Leontes ins Licht tritt, von erotischen, als Schattenspiel angelegten Szenen zwischen den beiden unterbrochen. Sie wird wegen Ehebruchs vor Gericht gestellt, und ihr neugeborenes Baby Perdita wird ausgesetzt. Ihr kleiner Sohn stirbt unter der Belastung. Auch Hermione wird für tot erklärt. Nicht gerade eine offensichtliche Wahl für ein abendfüllendes Ballett, aber vor zehn Jahren womöglich ein Grund mehr für Wheeldon, diese späte Romanze zu erschaffen. Der Choreograf, der sich eigentlich mit nicht-narrativen Balletten wie „Polyphonia“ einen Namen gemacht hat, scheut sich nicht vor den Widersprüchen des Lebens.
Denn, und das ist nicht immer einfach zu betrachten, „The Winter’s Tale“ taumelt im Erzählton hin- und her: von Freude zu Tragödie und wieder zurück. In einer Szene vergewaltigt der König beinahe seine schwangere Frau, in der nächsten tanzt das Corps de Ballet einen fröhlichen Reigen, und zum Schluss bekommen wir ein klassisches Happy End vor einem magentafarbenen Himmel. Der Tanz der Solistinnen in bunten, märchenreifen Kostümen ist hervorragend. Die Premiere gab Brendan Saye die Chance, Wildheit und leidenschaftliche Reue zu zeigen. Hyo-Jung Kang gibt Hermione eine schmerzende Traurigkeit und erfüllt ihre Bewegungen mit qualvollem Unverständnis. Die Geschichte ist recht komplex für ein Ballett. Es lohnt sich einen Blick ins Programm zu werfen, bevor der Vorhang aufgeht.
Der sonnenverwöhnte zweite Akt, der sich um Bob Crowleys prächtigen großen, bemoosten Baum abspielt (der wohlverdienten Zwischenapplaus bekam), handelt von der inzwischen erwachsenen Tochter, die sich in einen Prinzen verliebt. Ioanna Avraam und Davide Dato sind ein herzliches Paar, das vor Lebensfreude nur so sprudelt. Mit Basil Twists Seideneffekten werden hier ganze Meer, Stürme und Schiffssegel erschaffen. Es gibt in dem Stück eine legendäre Regieanweisung für den Mann, der das Baby aussetzt: „Geht ab, verfolgt von einem Bären.“ Wenn der gefräßige Tier in Form von durch die Luft tanzenden Stoffwellen um sich schlägt, ist „The Winter’s Tale“ am lebendigsten.
Nach einem dreistündigen Abend wird Leontes (Achtung, Spoiler!) verziehen. Während er an der Statue seiner Frau betet, erwacht Hermione wieder zum Leben – und spricht ihren Gatten von seiner Schuld frei. Ihr Pas de deux besteht aus geschmeidigen, singenden Linien. Die Tochter wird in den Tanz hineingezogen. Die Statue des toten Sohns bleibt jedoch aus Stein. Der König hat ihn getötet. Kein ganz glückliches Ende, aber ein Gefühl der Vergebung.
(Von Marietta Steinhart/APA)
„The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon in der Staatsoper, Opernring 2, 1010 Wien. Dirigent: Christoph Koncz, Musik: Joby Talbot, Choreografie: Christopher Wheeldon, Bühne und Kostüme: Bob Crowley, Licht: Natasha Katz, Seideneffekte: Basil Twist, Projektionen: Daniel Brodie. Weitere Vorstellungen am 21., 23., 26. und 29. November sowie am 1., 6., 17. und 20. Dezember. wiener-staatsoper.at