Die frühere EuGH-Richterin Maria Berger hat sich „sehr verwundert“ über die Debatte zum Afghaninnen-Urteil des Europäischen Gerichtshofs gezeigt. Der Wegfall der Einzelfallprüfungen sei eine Erleichterung für die Asylbehörden und werde keinen Pull-Effekt auslösen, betont Berger im APA-Interview. „Es wurde seit zwei Jahren keine Frau (aus Afghanistan) mehr abgelehnt in Österreich.“ Zudem werden in der ganzen EU lediglich 1.000 Asylanträge von Afghaninnen gestellt.
Der Europäische Gerichtshof hatte am Freitag auf Antrag des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH) entschieden, dass bei Afghaninnen keine Einzelfallprüfung erforderlich ist, ob ihnen in ihrem Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgung droht. Vielmehr kann die entsprechende Verfolgung angesichts des frauenverachtenden Taliban-Regimes in Afghanistan pauschal angenommen werden. Der Europarechtler Walter Obwexer warf dem EuGH vor, den Regierungen die Mittel zur Steuerung der Migration zu nehmen. Schlepper müssten nur noch schauen, dass sie Frauen in einen EU-Staat bringen. Diese würden dann ihre Kernfamilie nachholen, so Obwexer. Er forderte so wie die frühere Höchstgerichtspräsidentin und NEOS-Politikerin Irmgrad Griss einen „Wandel“ in der Judikatur des EuGH.
Berger kann diese Forderungen nicht nachvollziehen. „Gerade aus Anlass dieses Urteils von einem Judikaturwandel zu sprechen verstehe ich überhaupt nicht.“ Schließlich kämen die nationalen Asylbehörden bei Afghaninnen durchwegs „zum gleichen Ergebnis“. Länder wie Schweden und Finnland seien daher schon vor zwei Jahren von Einzelfallprüfungen abgegangen und gewährten Afghaninnen automatisch Schutz. In den beiden Ländern seien die Asylanträge von Afghaninnen seitdem nicht gestiegen. Deshalb werde es auch infolge des EuGH-Urteils keinen Anstieg geben, erwartet die frühere Justizministerin.
Die langjährige frühere SPÖ-Europaabgeordnete betont, dass für Änderungen im Asylrecht der Gesetzgeber zuständig sei. Bei den Afghaninnen sei dies aber „den Anlass nicht wert“, weil die Anzahl der Asylanträge äußerst überschaubar sei. Was den Familiennachzug betrifft, so sei dieser auf die Kernfamilie – also Kinder und Ehemann – beschränkt, ergänzt die frühere Justizministerin.
Die Ankündigung des Innenministeriums, auch nach dem EuGH-Urteil bei Einzelfallprüfungen zu bleiben, qualifiziert Berger als „fortgesetzten Wahlkampf“. Schließlich sei nach dem Spruch der EU-Höchstrichter eigentlich der Verwaltungsgerichtshof am Wort, die Berufungsinstanz des zum Innenministerium ressortierenden Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA).
Befragt zu Anpassungen im europäischen Asylrecht pocht Berger auf eine Durchsetzung der geltenden Regeln, einschließlich des jüngst beschlossenen Asyl- und Migrationspakts. „Damit wäre viel geholfen.“ Stärker belastete Staaten wie Österreich müssten ein Interesse an einem starken EuGH haben, der ihren Verpflichtungen nicht nachkommende Staaten mit Geldstrafen zur Einhaltung des EU-Rechts zwinge, verweist Berger etwa auf Ungarn. Von der künftigen österreichischen Bundesregierung erwartet sie sich, dass sie „geltendes Recht umsetzt und nicht pauschal auf die EU hinhaut, wenn etwas nicht funktioniert“.
Nicht auf die Unterstützung Bergers zählen kann der selbst erklärte SPÖ-Vorsitzkandidat Rudolf Fußi. Sie werde Fußi bei seiner Kampagne „sicher nicht“ unterstützen, sagt das langjährige SPÖ-Mitglied auf eine entsprechende Frage der APA. Zu Fußis Aktion falle ihr der Spruch ihrer Mühlviertler Großmutter ein, so Berger: „Das haben wir so notwendig wie einen Kropf.“
(Das Interview führte Stefan Vospernik/APA)