Interview: Islam-Theologe für Integration durch Assimilation

Abdel-Hakim Ourghi: Politik und Kirchen sollten Kooperation mit konservativen Islamverbänden überdenken

Der soeben vereitelte Anschlag auf ein Wiener Taylor-Swift-Konzert unterstreicht auf drastische Weise: Österreich hat ein Integrationsproblem. Das brandgefährliche Gedankengut islamischer Extremisten sickert auch hierzulande in jungmuslimische Köpfe. Was tun? Der islamische Religionspädagoge und Buchautor Abdel-Hakim Ourghi spricht sich im VOLKSBLATT-Interview für einen Schulterschluss der liberalen Muslime und gegen das Hofieren konservativer Islamverbände durch Politik und christliche Kirchen aus. Die Lösung des Integrationsproblems sieht der Freiburger Theologe in Assimilation.

VOLKSBLATT: Vor sechs Jahren haben Sie in einem VOLKSBLATT-Interview das Scheitern der liberalen Muslime beklagt. Stimmt der Eindruck, dass sich die Situation seither eher verschlechtert als verbessert hat?

ABDEL-HAKIM OURGHI: Der liberale Islam könnte erfolgreich seinen, wenn sich seine Wortführer in Rahmen eines Dachverbands organisierten. Dies ist auch möglich. Der schweigenden Mehrheit der Muslime in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich muss eine Bühne im öffentlichen Raum angeboten werden. Und viele unter ihnen hoffen auch, dass das geschieht.

Den meisten Vertretern des liberalen Islams, die solch ein Unternehmen in die Tat umzusetzen könnten, geht es aber nicht um die Sache, sondern um die eigene Person und das eigene Interesse. Es ist die höchste Zeit, dass Wortführer des liberalen Islam ihre Streitigkeiten beiseite lassen und zusammenarbeiten. Der liberale Islam ist kein One-Man-Show.

Islamkonferenzen nur politisches Theater

Für eine Islamkonferenz in Wien suchten die Organisatoren im Juni vergeblich nach einem österreichischen Muslimverein, der in der Diskussion den Part des säkularen Islam vertreten hätte sollen. Fundi-Vereine gibt es dagegen schon fast in jedem größeren Dorf. Woran liegt es?

Selbstverständlich wünsche ich Mouhanad Khorchide (Islam-Theologe an der Uni Münster und Initiator der österreichischen Islam-Konferenz, Anm.) viel Erfolg bei seinem Vorhaben hinsichtlich der Islamkonferenz in Wien. Jedoch hat uns die Geschichte beigebracht, dass die durch den Staat organisierte Religion zum Scheitern verurteilt wird. Sowohl die Islamkonferenz in Wien als auch in Deutschland ist nichts anders als ein politisches Theater zur Beruhigung der Mehrheitsgesellschaft. Die Islamkonferenz ist nur eine Show, weil wir am Ende nicht weiterkommen. Wir brauchen Konferenzen, in denen es um Versäumnisse auch von politischer Seite geht, wie etwa die zunehmende Macht des politischen Islams, die besorgniserregende Judenfeindschaft und die Zunahme des islamischen Antisemitismus im Westen.

Antisemitismus auch unter liberalen Muslimen verbreitet

Ist die schweigende Mehrheit der Muslime wirklich liberaler eingestellt als die Verbände oder ist das von Milli Görüs oder Ditib in Deutschland bzw. dessen österreichischem Pendant Atib verbreitete Weltbild in der muslimischen Community als mehrheitsfähig zu betrachten?

Ja wohl, die schweigende Mehrheit ist liberal. Jedoch haben wir ein größeres Problem. Der islamische Antisemitismus ist auch unter den liberalen Muslimen verbreitet. In meinem neuen, Anfang November erscheinenden Buch „Die Liebe des Hasses. Der 7. Oktober 2023“ bin ich bemüht zu erklären, woher dieser Hass und diese Verachtung gegen Juden und den Staat Israel kommen.

Interreligiöser Dialog hat nichts gebracht

Als einer der Erstunterzeichner der 2016 veröffentlichten Freiburger Deklaration für eine „Aufklärung, aus der eine muslimische Gemeinschaft erwächst, die sich als integraler Bestandteil der europäischen Gesellschaft sehen will“, müssen Sie ziemlich frustriert sein. Von islamischen Aufklärern hört man wenig, dafür umso mehr von islamistischen Influencern, die offen gegen eine westliche „Wertediktatur“ rebellieren und das Kalifat propagieren.

Nein, ich bin nicht frustriert, sonst hätte ich längst mit meiner Aufklärungsarbeit aufgehört. Die Politik und die beiden Kirchen müssen endlich ihre Zusammenarbeit mit den radikalisiert-konservativen Dachverbänden infrage stellen. Was haben sie mit dem interreligiösen Dialog erreicht? Nichts. Viele Moscheen sind und bleiben der Ort, wo zur Radikalisierung junger Muslime und Verbreitung des islamischen Antisemitismus beigetragen wird. Mein Ziel ist, die junge Generation durch den islamischen Unterricht zu erreichen. Diese muss lernen, dass das weltliche Gesetz über der Religion steht und dass sie sich mit dem Land, in dem sie lebt, und mit den westlichen Werten identifiziert. Die Lösung der gescheiterten Integration ist die Schaffung eines europäischen Individuums, das auch Muslim sein kann.

Warum verurteilen die Dachverbände Hamas nicht?

Der aktuelle Nahost-Krieg befeuert den Antisemitismus und wird von Islamisten propagandistisch ausgeschlachtet. Österreich und Deutschland werden sogar kritisiert, weil die Regierungen zu Israel-freundlich seien. Sollten Wien und Berlin die historische Verantwortung ausblenden oder darf man noch Israel-freundlich sein?

Der 7. Oktober (2023, Tag des Hamas-Überfalles auf Israel, Anm.) hat tatsächlich gezeigt, dass wir es nicht nur mit dem Antisemitismus der Islamisten, sondern auch mit dem islamischen Antisemitismus zu tun haben. Alle, nicht nur Juden, nicht nur liberale Muslime müssen zusammenarbeiten. Denn der islamische Antisemitismus ist auch eine Ablehnung unserer westlichen Werte. Es ist höchste Zeit, die Frage zu stellen, warum sich Muslime mit einem idealisierten Land namens Palästina, das nicht mal existiert, identifizieren. Wo sind alle diese Dachverbände? Warum waren sie nicht auf den Straßen, um die verbrecherische Hamas zu verurteilen?

Muslime brauchen eine Erinnerungskultur

Der israelisch-palästinensische Krieg ist ein politischer, ethnischer, sozialer Konflikt. Ist die Religion „nur“ Brandbeschleuniger oder muss man sie auch als ursächlich betrachten?

Die Israelphobie und der islamische Antisemitismus unter den Muslimen ist nicht anders als ein historisches Produkt der durch die Quellen des Islam legitimierten Judenfeindschaft. Dazu benötigen die Muslime eine Erinnerungskultur, damit die dunklen Seiten ihrer Geschichte nicht verdrängt oder vergessen werden.

Sind die Radikalen nur lauter als die Reformer oder haben sie tatsächlich die Lufthoheit über vielen Moscheegemeinden?

Man muss zugeben, dass der radikalisiert-konservative Islam der muslimischen Dachverbände bestens organisiert ist. Dies ist auch den beiden Kirchen und politischen Parteien zu verdanken. Es wird Zeit, dass die Wortführer des liberalen Islam gemeinsam an einem Tisch sitzen, damit sie sich organisieren.

Sie selbst haben die Dominanz konservativer Islamverbände zu spüren bekommen, als Ihnen die „Stiftung Sunnitischer Schulrat“ in Baden-Württemberg vor drei Jahren die Lehrbefugnis entzog. Ist der Rechtsstreit darüber inzwischen entschieden?

Leider wurde darüber noch nicht entschieden. Der 7. Oktober und seine Wirkungen werden aber dafür sorgen, dass die radikalisiert-konservativen Dachverbände entmachtet werden.

Verhüllung ein Produkt männlicher Herrschaft

Sie lehren zwar, dass Muslima kein Kopftuch tragen müssen, stehen aber Kopftuchverboten selbst skeptisch gegenüber. Die Frauenrechtsorganisation „Terre des femmes“ hat gerade in einer Umfrage unter deutschen Pädagoginnen erhoben, dass bereits fünfjährige Mädchen verschleiert werden und Jungmuslima mit Kopftuch bei Integration und Bildung benachteiligt sind. Wie außer mit dem von TDF geforderten Kinderkopftuchverbot könnte diese Entwicklung gestoppt werden?

Ich bin kein Freund von Verboten. Ich bin sehr für die Aufklärungsarbeit. Unsere Aufgabe liegt darin zu zeigen, dass das Kopftuch durch die Religion überhaupt nicht legitimiert wird. Die Verschleierung ist ein historisches Produkt männlicher Herrschaft.

Im Geschichtsunterricht in Österreich und Deutschland spielt zwar das „Lernen aus der Geschichte“ im Sinne des „Nie wieder“ Nationalsozialismus eine zentrale Rolle. Doch die Schulklassen, in denen bisweilen schon mehrheitlich muslimische Kinder sitzen, hören nichts über muslimischen Antisemitismus oder etwa Hitlers in der arabischen Welt bis heute verehrten Holocaust-Komplizen Amin al-Husseini. Braucht es neue Lehrpläne, die im Unterricht dem demografischen Wandel Rechnung tragen?

Islamischer Antisemitismus und Israelphobie müssen in den islamischen Unterricht integriert werden. Juden und Muslime müssen endlich zusammenarbeiten. Allerdings müssen die Juden auch jegliche Zusammenarbeit mit dem organisierten politischen Islam ablehnen.

Die Zukunft gehört dem liberalen Islam

Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) beantwortet Fragen nach ihrer Haltung zu al-Husseini und anderen muslimischen NS-Mittätern wie den in Bosnien auch heute noch verehrten SS-Imam Husein Dozo nicht einmal. Was muss geschehen, um auch die Muslime zur Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte zu bringen?

Das werden sie in den Gemeinden nicht machen, sonst würden sie ihre Deutungshoheit und die Unterstützung ihrer Herkunftsländer verlieren.

Wie ist Ihre Prognose für Europa, wenn dem politischen Islam nicht Einhalt geboten wird?

Die Zukunft gehört dem liberalen Islam. Die Herausforderung der Integration der Muslime im Westen wird nur durch Assimilation zu lösen sein. Damit meine ich, dafür zu stehen, wo ich lebe, und mich mit den Werten des Landes, in dem ich lebe, zu identifizieren.

Interview: Manfred Maurer

Zur Person:

Abdel-Hakim Ourghi wurde 1968 in Oran (Algerien) geboren. 2006 dissertierte er an der Universität Freiburg (Baden-Württemberg) mit einer Abhandlung über die Reformbewegung in der neuzeitlichen Ibadiya, einer islamischen Strömung, die weder dem Sunnitentum noch der Schia angehört. Seit 2011 leitet er den Fachbereich Islamische Theologie/Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. 2016 gehörte Ourghi zu den Erstunterzeichnern der „Freiburger Deklaration“ säkularer Muslime aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, ein Jahr darauf veröffentlichte er „40 Thesen für einen reformierten Islam“ und wurde Mitbegründer der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moscheein Berlin.

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2018 erschien sein Buch „Ihr müsst kein Kopftuch tragen — Aufklären statt verschleiern“, in dem er die islamische Verhüllungspflicht für Frauen theologisch dekonstruiert. Auch dem Thema Antisemitismus nähert er sich in einer Weise, die nicht allen Muslimen gefällt: „Mit 23 Jahren kam ich als indoktrinierter Antisemit nach Deutschland. Unsere Sozialisation in unseren Herkunftsländern wollte uns in den Zustand des unsterblichen Hasses gegen die Juden versetzen.“ Es habe Jahre gedauert, „bis ich lernte, dass die Juden nicht die Feinde der Muslime sind“. Nachzulesen im 2023 erschienen Buch „Die Juden im Koran“. Demnächst erscheint Ourghis nächstes Buch, in dem er sich mit den religiösen Wurzeln der Eruption des Hamas-Hasses gegen Israel am 9. Oktober 2023 auseinandersetzt.

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