Kleine, aber laute Minderheiten

Bundesregierung ließ Extremismuspotenziale in Österreichs migrantischen Gruppen analysieren

Allein der Titel der Studie birgt Sprengstoff: „Lagebild Extremismus und Migration: Fallstudien aus vier österreichischen Communitys“. Schließlich ist eine derartige Kontextualisierung bei Verfechtern einer Vogel-Strauß-Ausländerpolitik verpönt.

Normale Pathologie

Die von Kanzleramt und Innenministerium mit der Studie beauftragten Terrorismusforscher Peter Neumann und Nicolas Stockhammer sowie der Historiker Heiko Heinisch und die Politologin Nina Scholz neutralisieren absehbare Kritik, indem sie Extremismus als „eine in den meisten Gesellschaften ‚normale Pathologie‘“ betrachten.

Es gebe keinen Grund, weshalb migrantische Communitys davon ausgenommen seien. So wie viele Studien „normal-pathologischen“ Extremismen autochthoner Österreicher gewidmet sind, liegt nun auch eine zum Extremismus mit Migrationshintergrund vor. Dafür wurden im Sommer 2021 in 48 Interviews Menschen mit türkischen, arabischen, tschetschenischen bzw. westbalkanischen Wurzeln sowie Wissenschafter, Journalisten und Behördenvertreter befragt.

Vor die teils alarmierenden Ergebnisse stellen die Autoren „die gute Nachricht, dass Extremisten in keiner der untersuchten Communitys ‚repräsentativ‘ für die jeweilige Gruppe, sondern stets eine kleine, aber laute Minderheit sind“.

Als am wenigsten problematisch werden Migranten vom Westbalkan eingestuft. Zwar kommen aus dieser Gruppe „ein Reihe von dschihadistischen Akteuren“, wie der — aus Nordmazedonien stammende — Urheber des Anschlages in Wien im November 2020 oder ein Teil des gerade im Vorfeld der Wiener Regenbogenparade festgenommenen Trios. Insgesamt wird die Integration der Westbalkaner aber als „Erfolgsgeschichte“ qualifiziert.

Problematischer, wenngleich auch nicht im Hinblick auf Terrorgefahren wird die austro-türkische Gemeinde gesehen: „Das dschihadistische Phänomen (ist) relativ unbedeutend“, so die Studie, die jedoch ein „signifikantes Gewaltpotenzial“ unter Jugendlichen in der Schnittmenge zwischen Nationalismus und Islamismus ortet. Hier geht es um „aktivistischen Extremismus“, der im Unterschied zum gewalttätigen Extremismus (weitgehend) gesetzeskonform daherkommt. Das gelingt freilich nicht immer, wie nach den türkischen Wahlen in Wien zu sehen war: Erdogan-Anhänger zeigten bei Jubelfeiern den verbotenen „Wolfsgruß“ und andere Symbole der „Ülkücü“-Bewegung.

Neben den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ fällt die islamistische Milli Görüs (MG) auf. Sie versuche, so die Studie, „durch aktive Mitarbeit in Parteien und in der Zivilgesellschaft, Komponenten der eigenen Ideologie gesamtgesellschaftliche Geltung zu verschaffen“. Diese Ideologie basiert auf dem Weltbild des Gründers Necmettin Erbakan, der die westliche Zivilisation durch eine „gerechte“, sprich: islamische Ordnung ersetzen wollte.

Parallelgesellschaft

Be(ob)achtenswert ist die in Österreich als „Islamische Föderation“ (IF) auftretende Organisation aus zweierlei Gründen: Zum einen verbreite Milli Görüs „einen aktivistischen Islamismus, der auf eine sichtbare Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft abzielt und versucht, parallelgesellschaftliche Strukturen zu schaffen“. Zum anderen dominiert die IF die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ). Sie stellt dort fünf der 27 Kultusgemeinden und führende Funktionäre. Anfragen der Studienautoren ließ die IGGÖ übrigens unbeantwortet.

Was die IF für die türkische Community ist, ist die Muslimbruderschaft (MB) für die arabische. Diese versuche, „Muslime von der Gesellschaft zu entfremden und parallelgesellschaftliche Strukturen aufzubauen“. Wegen vieler junger, oftmals traumatisierter und schlecht integrierter Männer, der Präsenz islamistischer Akteure sowie dem nach wie vor starken Einfluss ausländischer Konflikte wird das Radikalisierungspotenzial in dieser Gruppe als erheblich eingestuft.

Kein Generalverdacht

„Hohes Radikalisierungspotenzial“ sieht die Studie in der Nordkaukasus-Community, also bei Tschetschenen, was einer „gewaltaffinen Ehrkultur“ und dem Einfluss der nationalistisch-salafistischen Herrschaftsideologie von Präsident Ramsan Kadyrow geschuldet ist. Die Autoren orten jedoch als positive Entwicklung eine wachsende Bereitschaft innerhalb der Community, sich dem Gewaltphänomen entgegenzustellen. Sie empfehlen daher eine differenzierte Herangehensweise und warnen davor „ganze Communitys unter Generalverdacht zu stellen“.

Karner: Mehr Befugnisse!

Für Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) ist die Studie „eine wichtige Grundlage, damit wir wissen, warum und in welchen Erscheinungsformen es zu Extremismus gerade in einzelnen Migrantengruppen kommt“. Innenminister Gerhard Karner nimmt sie zum Anlass, mehr Möglichkeiten für Sicherheitsbehörden zu fordern: „Die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst braucht für einen wirkungsvollen Schutz der Menschen in unserem Land vor allem zeitgemäße und moderne Befugnisse“, so der ÖVP-Minister.

Von Manfred Maurer

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