Harry Merl lebt heute in Gramastetten, als jüdisches Kind überlebte er in Wien den Holocaust. Die zwanzig Vorstellungen über den „Vater der Familientherapie“ in der Tribüne Linz, in Wien und Wels waren ausverkauft.
Der Linzer Kulturverein ETTY hat einen Mitschnitt der szenischen Lesung auf Stream (kostenloser Link: vimeo.com/401695203) gestellt. Regisseur und Merl-Biograph Johannes Neuhauser arbeitet in Linz als Psychotherapeut, ein Gespräch über Corona, Isolation und Überleben.
VOLKSBLATT: Ihre aktuelle Situation?
JOHANNES NEUHAUSER: Wie andere Familien wurschteln wir so dahin. Unsere Töchter sind elf und 17, und Homeschooling ist schon eine große Herausforderung für uns alle. Wenn meine Frau (die Schauspielerin Bettina Buchholz, Anm.) nicht Theater spielen kann, verdient sie auch kein Geld. Wir sind ein kleiner Kulturverein und ich rechne ehrlich gesagt nicht damit, dass wir irgendeine Entschädigung bekommen. Als Psychotherapeut bin ich per Telefon oder Skype für meine Klienten da, aber ich dränge mich nicht auf.
Was haben Sie persönlich mitgenommen aus der Begegnung mit Harry Merl?
Harry ist für mich ein echtes Vorbild. Ein Mensch, der sich und sein Handeln sehr genau reflektiert: Wenn ich dies sage oder tue, was löse ich damit bei meinem Gegenüber und seinem familiären Umfeld aus? Wird es ihn ermutigen oder wird es ihn klein machen? Helfe ich ihm, seine Würde zu bewahren oder stelle ich ihn bloß? Harry ist wirklich ein großer Pionier der systemischen Familientherapie. Er hat es geschafft, in den schwersten Dingen auch das Leichte zu sehen und vor allem nie den Mut und Hoffnung zu verlieren. Und er hat Humor, viel jüdischen Humor. Ich glaube, das brauchen wir alle auch in diesen Tagen, einen guten Schuss Humor!
Beim Wieder-Schauen des Stücks gingen mir Wörter durch den Kopf, die in den letzten Jahren nicht so hoch im Kurs standen: Menschlichkeit und Mitgefühl.
Viele haben auch vor Corona ihre Menschlichkeit und ihre Empathie gelebt, aber die anderen haben halt lauter und schriller geschrien. Ehrlich gesagt, bin ich sehr froh, dass, während wir Harry Merl gespielt haben, „Ibiza“ geschehen ist und wir jetzt eine andere Regierung haben. Ohne unseren empathischen und souveränen Bundespräsidenten und die jetzige Koalitionsregierung wäre mir mulmig zumute.
Zynisch fände ich, Parallelen zwischen dem Überleben eines Völkermords — ein Kind jahrelang in Todesangst, die letzten Monate im Kohlenkeller — und gegenwärtiger Isolation durch das Virus zu ziehen. Dennoch, wie überstand Harry psychisch die Isolation?
Man kann ruhig aus Extremsituationen wie dem Holocaust auch etwas für unsere jetzige Situation ableiten. Harry war jahrelang in einem kleinen Zimmer eingesperrt. Er begann, dieses Zimmer Zentimeter für Zentimeter zu erforschen. Er suchte sich immer etwas, was ihn interessierte, was seinen Geist wach hielt. Er hatte nur ein Buch, „Dr.
Dolittle und seine Tiere“. Er las dieses Buch immer wieder, und jedes Mal, wenn Dr. Dolittle ein Tier heilte, dann jubelte er, dass wieder jemand gerettet wurde. Für ihn war das Glas nie halb leer, sondern immer halb voll. Solche Menschen und Einstellungen brauchen wir auch, nachdem die Corona-Pandemie überwunden ist. Wir brauchen Visionäre, die den Menschen keine falschen Versprechungen machen, sondern einen neuen, guten und sinnvollen Weg in die Zukunft aufzeigen.
Was haben Sie als Psychotherapeut derzeit Menschen zu sagen?
Zu sagen habe ich erst einmal nichts. Es ist wichtig, genau zuzuhören, einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre Ängste, Ohnmachtsgefühle, ihre Wut ausdrücken dürfen. Sie selbst so zerrissen und ambivalent, wie sich die jetzige Situation ja auch darstellt. Sigmund Freud bezeichnete Psychotherapie als eine „Redekur“. Von überall bekommen Menschen Tipps und Ratschläge, sie brauchen jedoch einen Raum, wo sie sich selber finden können. Lernen, sich selber, die Ungewissheit und die Stille auszuhalten. Anerkennen, was ist, und nicht immer dagegenzuhalten. Innere und äußere Freiheit entsteht, indem man sich selbst verstehen und wertschätzen lernt. Man könnte auch einfach sagen, sich selbst und andere lieben lernt. Auch oder gerade in unserer Begrenztheit.
Sie drehten einige Jahre für den ORF Dokumentarfilme an sozialen und entwicklungspolitischen Brennpunkten.
Ich war bei den Müllmenschen von Manila, während der Aids-Epidemie in Uganda, bei den Landlosen und den Indigenen im Amazonas, während des jugoslawischen Bürgerkriegs an der serbisch/kroatischen Front. Ich habe gesehen, wie sehr Familien leiden und wie schlimm Menschen sterben können. Wir leben in Österreich immer noch in einer ungemein privilegierten Situation. Wir sollten auch in Zeiten von Corona jeden Tag dafür dankbar sein und ganz selbstverständlich mit den Schwächsten teilen. Einer meiner besten Freunde ist Leiter einer Intensivstation in Linz. Falls es ganz schlimm wird, würde ich gerne, soweit es ausreichend Schutzkleidung gibt, auf seiner Station den Sterbenden beistehen und ihnen ermöglichen, noch mit ihren Angehörigen zu telefonieren. In der systemischen Therapie gibt es den schönen paradox klingenden Satz: Du hast keine Chance, also nutze sie!